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in Berührung, welche ebenfalls Verwandtschaft zum Sauerstoff besitzt, wie ein mächtiges Oxydationsmittel sich verhält; sie bewirkt, während sie selbst in Schwefelsäure übergeht, dass der daneben befindliche Körper sich ebenfalls oxydirt und dies geschieht, indem sie den Sauerstoff in ozonisirten Sauerstoff verwandelt.

Die Arbeiten Schönbein’s in diesem Gebiete haben uns mit der merkwürdigen Thatsache bekannt gemacht, dass in den Oxydationsprocessen bei gewöhnlicher Temperatur, die man zum Unterschiede von denen, welche bei höherer Temperatur vor sich gehen, als Verwesungsprocesse bezeichnet, ehe der Sauerstoff eine Verbindung mit den einzelnen Moleculen bildet, in welchen er seine Eigenschaften einbüsst, ehe er also ein Bestandtheil eines Moleculs wird, dass er zunächst sich mit der ganzen Masse aller Moleculen verbindet, in der Art, dass mit diesen vereinigt seine Eigenschaften bis zur Ozonisirung erregt und gesteigert werden. Phosphorstangen auf einem Trichter, der auf einem Glasgefässe ruht, auf dessen Boden sich Wasser befindet, zerfliessen nach und nach völlig, indem sie langsam verbrennen; das Wasser in dem Glasgefäss wird von gebildeter Phosphorsäure und namentlich von phosphoriger Säure sehr sauer; da die phosphorige Säure eine sehr ausgezeichnete Anziehung zum Sauerstoff besitzt, so sollte man denken, dass sie mit ozonisirtem Sauerstoff in Berührung augenblicklich damit in Phosphorsäure übergehen müsste.

Allein die durch Zerfliessen des Phosphors in der angegebenen Weise erhaltene saure Flüssigkeit enthält eine so grosse Menge ozonisirten Sauerstoff, dass sie mit einer Jodkalium-Lösung und Stärkmehlkleister vermischt augenblicklich durch Ausscheidung von Jod eine blauschwarze Mischung wie Dinte bildet. In ähnlicher Weise verhält sich das Bittermandelöl und ganz besonders das Terpentinöl.

Schüttelt man einige Tropfen dieser beiden Oele mit etwas Jodstärkmehlkleister und Luft, so wird die Mischung nach wenigen Minuten durch gebildetes Jodstärkmehl blau.

Mit Luft geschütteltes Terpentinöl nimmt bis zu 2 pCt. Sauerstoff in der Form von ozonisirtem Sauerstoff in sich auf und wird dadurch zu einem mächtigen Oxydationsmittel.

Man kann sich kaum etwas Sonderbareres denken, als dass ein Stoff wie Terpentinöl, welcher nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff besteht, vermöge dieser Eigenthümlichkeit Sauerstoff zu ozonisiren, ganz die Eigenschaften des Chlors annimmt; schweflige Säure in Berührung damit wird dadurch in Schwefelsäure übergeführt; Indigtinctur damit geschüttelt wird dadurch sogleich zerstört, ganz wie durch Chlorwasser.

Was in diesen Erscheinungen die Aufmerksamkeit fesselt ist der Umstand, dass viele derselben nur im Tageslichte oder Sonnenlichte vor sich gehen; im Dunkeln treten sie nicht oder nur langsam ein.

Die phosphorige Säure, das Bittermandelöl, das Terpentinöl besitzen die oben beschriebenen Eigenthümlichkeiten nur vorübergehend; nach mehreren Stunden oder Tagen, im Dunkel sowohl wie im Tageslichte, im letzteren nur schneller, verlieren sie ihre oxydirenden Wirkungen gänzlich, die phosphorige Säure ist dann in Phosphorsäure, das Bittermandelöl in Benzoesäure, das Terpentinöl in einen harzartigen Körper übergegangen.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_118.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)