Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 123.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


ihre Lage wechseln, um sich in den Richtungen ihrer stärksten Anziehung lagern zu können. Eine Menge in der Wärme gesättigter Salzauflösungen setzen beim Erkalten in völliger Ruhe keine Krystalle ab, das kleinste Stäubchen, ein Sandkorn, in die Flüssigkeit geworfen, reicht hin, um die Krystallisation einzuleiten; ist die Bewegung einmal eingetreten, so pflanzt sie sich von selbst fort, das bewegte Atom giebt den Anstoss zur Bewegung des zunächst liegenden, und in dieser Weise theilt sie sich allen Atomen mit.

Bringen wir metallisches Quecksilber in eine Auflösung von Schwefelleber, so bedeckt sich die Oberfläche sogleich mit schwarzem, amorphem Schwefelquecksilber, was sich eben so oft erneuert, als man die Oberfläche hinwegnimmt. Befestigen wir diese Mischung in einer gutverschlossenen Glasflasche an den Rahmen einer Säge in einer Sägemühle, der sich in der Stunde mehrere tausendmal auf- und abbewegt, so geht das schwarze Pulver in den schönsten rothen Zinnober über, der sich von dem schwarzen nur durch seine krystallinische Beschaffenheit unterscheidet.

Das gewöhnliche Roheisen verdankt seine Härte, seine Zersprengbarkeit und seine krystallinische Beschaffenheit einem Gehalte von Kohle; das reine kohlenfreie Eisen ist nur höchst selten krystallinisch; darin unterscheidet sich eben das Eisen in den Meteorsteinen von dem Spiegeleisen, dass es bei der bestimmtest ausgedrückten krystallinischen Textur die größte Weichheit, so wie etwa ein sehr reines Schmiedeeisen, besitzt; aber eine Stange Schmiedeeisen ist im Bruch zähe, fadenförmig und zeigt keine Durchgangsflächen von Krystallen, die kleinsten Theilchen sind ohne alle Ordnung durcheinander lagernd; im polirten Zustande mit einer Säure befeuchtet, zeigt seine Oberfläche die eigenthümlichen Zeichnungen nicht, welche dem krystallinischen Eisen angehören. Wenn aber die Stange lange Zeit hindurch schwachen, aber sich stets wiederholenden Hammerschlägen ausgesetzt wird, so sieht man, dass die kleinsten Theilchen, die Eisenatome, ihre Lage ändern, dass sie sich in Folge der auf sie einwirkenden mechanischen Bewegung nach der Richtung ihrer stärksten Anziehung lagern: die Stange wird krystallinisch, sie wird brüchig wie Gusseisen, der Bruch ist nicht mehr fadenförmig, sondern glatt und glänzend. Diese Erscheinung tritt an den eisernen Achsen der Locomotiven und Reisewagen mehr oder weniger rasch ein, und ist die Ursache von nicht vorherzusehenden Unfällen.

Aber nicht bloss auf die äussere Form und Beschaffenheit, auf die Lagerung gleichartiger Theilchen haben mechanische Kräfte einen bedingenden Einfluss, sondern auch auf die Ordnungsweise der ungleichartigen Atome, auf das Bestehen von chemischen Zusammensetzungen. Die schwächste Reibung, ein Stoss bringt das Knallquecksilber, das Knallsilber zum Explodiren, die Berührung mit dem Barte einer Feder reicht hin, um das Silberoxyd-Ammoniak, den Jodstickstoff zu zerlegen. Das blosse in Bewegung Setzen der Atome ändert in diesen Fällen die Richtung der chemischen Anziehung, sie ordnen sich in Folge der eingetretenen Bewegung zu neuen Gruppen; ihre Elemente treten zu neuen Producten zusammen.

Weit häufiger und sichtbarer noch ist der Einfluss, den die Wärme auf die Aeusserung der Affinität ausübt. In so fern sie Widerstände

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_123.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)