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überwindet, die sich der Wirkung der Verwandtschaft entgegensetzen, befördert und vermittelt sie die Bildung chemischer Verbindungen; tritt sie selbst als Widerstand der Verwandtschaft entgegen, so ändert sie die Richtung der Anziehung, die Lagerung der Atome, sie hindert und vernichtet ihre Aeusserungen. In niederen Wärmegraden ist die Anziehung, welche die ungleichartigen Atome zu einander haben, eine andere als in höheren; in den denkbar höchsten Hitzgraden findet die chemische Verbindung nicht mehr statt.

In einer Auflösung von Kochsalz in Wasser bilden sich, im Winter einem hohen Kältegrad ausgesetzt, grosse, schöne, durchsichtige, wasserhelle Säulen, welche über achtunddreissig Procent Wasser in chemischer Verbindung enthalten; das bei gewöhnlicher Lufttemperatur krystallisirte Kochsalz ist immer wasserfrei. Bei der leisesten Berührung mit der Hand werden die wasserhaltigen Krystalle milchweiss undurchsichtig, in die Hand genommen zerfliessen sie zu einem Brei von kleinen Würfeln von gewöhnlichem Kochsalz. Bei –10° gehen die Kochsalzatome mit den Wasseratomen eine chemische Verbindung ein, bei 0° besitzen beide diesen Grad der Anziehung nicht mehr. Der schwache Unterschied von zehn Temperaturgraden ist als Widerstand gegen die Verwandtschaft gross genug, um die Wirkung der letzteren aufzuheben.

Wenn kohlensaurer Kalk aus kaltem Wasser krystallisirt, so lagern sich seine Theilchen in der Form des isländischen Doppelspathes ab; aus warmem Wasser krystallisirt, erhalten wir ihn in der Form des Arragonits. Beide Mineralien, so unvereinbar in ihrer Krystallgestalt, so verschieden in ihrer Härte, ihrem specifischen Gewichte, ihrem Lichtbrechungsvermögen, enthalten absolut die nämlichen Mengen Kohlensäure und Kalk. Wir sehen in diesem Beispiel, dass die festwerdenden Theilchen des kohlensauren Kalkes unter dem Einflusse eines erhöhten Wärmegrades zu einem physikalisch ganz andern Körper sich gestalteten; noch merkwürdiger aber ist, dass wenn wir einen Arragonitkrystall zum schwachen Glühen erhitzen, wenn wir ihn also einem höheren Wärmegrad aussetzen, als der ist, in welchem er sich gebildet hat, alsdann eine Bewegung durch seine ganze Masse hindurch eintritt; ohne im Geringsten sein Gewicht zu ändern, bläht er sich blumenkohlartig auf und verwandelt sich in ein Haufwerk von feinen Krystallen, von denen ein jedes die rhomboëdrische Gestalt des gewöhnlichen Kalkspathes besitzt.

Ein Hühnerei erleidet durch den Einfluss der Temperatur von fünfundsiebenzig Grad eine gänzliche Veränderung in allen seinen Eigenschaften; das flüssige, kaum gelblich gefärbte Eiweiss wird weiss porcellanartig, seine kleinsten Theilchen verlieren alle Beweglichkeit; ohne dass von Aussen Etwas hinzutritt oder hinweggenommen wird, sehen wir die merkwürdigste Umwandlung: vor dem Erhitzen waren die Eiweisstheile löslich, mischbar in allen Verhältnissen mit Wasser, in Folge der durch die Wärme eingetretenen Bewegung verloren sie diese Fähigkeit, ihre Atome ordneten sich zu einer neuen Gruppe; von dieser neuen Lagerungsweise rühren die veränderten Eigenschaften her. Die in den Eiweisstheilchen thätigen chemischen Kräfte sind die letzte Ursache der neuen Lagerungsweise; in der neu gewonnenen Form äussern sie jetzt gegen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_124.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)