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die einwirkend störende Ursache, gegen die Wärme nämlich, einen Widerstand, der ihnen ursprünglich fehlte.

In dieser Weise verhalten sich alle organischen Körper; ohne Ausnahme sind sie alle durch den Einfluss mehr oder minder hoher Hitzgrade veränderlich und zerstörbar; der Widerstand, den ihre Atome, den die in ihnen thätige Kraft der störenden Ursache entgegensetzt, zeigt sich stets in einer neuen Lagerungsweise. Aus einem zusammengesetzten Atom entstehen eine oder zwei oder drei neue Gruppen von Atomen in einer solchen Ordnung, dass sich stets ein Gleichgewichtszustand herstellt. In den neugebildeten Producten ist der Widerstand der chemischen Kraft stärker, als in dem ursprünglichen Körper, die Summe der Verwandtschaftskraft wird nicht grösser, sie wird nur nach einer Richtung hin stärker und intensiver.

Was hier unter der Richtung gemeint ist, wird man sich am besten durch die Betrachtung eines Wassertheilchens in der Mitte eines Glases voll Wasser versinnlichen.

Das Wassertheilchen in der Mitte wird von allen Wassertheilchen in seiner unmittelbaren Umgebung angezogen und übt in ganz gleichem Grade eine Anziehung gegen sie aus, nach keiner Seite hin eine stärkere als nach der anderen. Die grosse Beweglichkeit und Verschiebbarkeit des Wassertheilchens beruht eben darauf, dass sich alle darauf wirkenden anziehenden Kräfte im Zustand des Gleichgewichts befinden. Die kleinste äussere Kraft reicht hin, um es von seiner Stelle zu bewegen, der geringste Temperaturunterschied, der seine Dichtigkeit vergrössert oder verringert, verursacht einen Wechsel seines Platzes.

Wäre es nach einer Seite hin stärker angezogen als nach der andern, so würde es sich nach dieser Richtung hin bewegen, es würde ein gewisses Mass von Kraft bedürfen, um es von dem Ort der Anziehung loszureissen. Grade in diesem Zustande befinden sich die Wassertheilchen der Oberfläche des Wassers, sie sind minder beweglich als die unteren, wie durch einen äusseren Druck sind sie näher bei einander, dichter, zusammengezogener. Mit einiger Vorsicht lässt sich eine feine Stahlnadel auf der Oberfläche schwimmend erhalten, welche eingetaucht mit Schnelligkeit zu Boden fällt. Dieser stärkere Zusammenhang rührt daher, dass die Wassertheilchen der Oberfläche nur nach einer Richtung hin angezogen werden und Anziehung äussern; der anziehenden Kraft von unten stellt sich keine Anziehung von darüberliegenden Wassertheilchen als Widerstand entgegen. Um abwärts zu fallen, müssen die Wassertheilchen der Oberfläche der Nadel nothwendig Platz machen, ausweichen, sie müssen von ihrer Stelle geschoben werden, allein sie weichen nicht aus, obwohl die Nadel einen sieben- bis achtmal grössern Druck auf sie ausübt als ein gleich grosses Stückchen Wasser.

In ganz gleicher Weise verhält sich in den chemischen Verbindungen die anziehende Kraft, welche die Bestandtheile zusammenhält. Mit der Anzahl der Elemente, mit der Anzahl der Atome, die zu einer Gruppe vereinigt werden, vervielfältigen sich die Richtungen der anziehenden Kraft; die Stärke der Anziehung nimmt in dem nämlichen Verhältniss, wie die Vielheit der Richtungen ab. Zwei Atome, zu einer Verbindung vereinigt, können sich nur von einer Seite her anziehen, die ganze

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_125.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)