Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 126.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Summe ihrer anziehenden Kraft äussert sich in dieser einzigen Richtung; tritt ein zweites, ein drittes Atom hinzu, so muss ein Theil von dieser Kraft verwendet werden, um auch diese anzuziehen und festzuhalten. Die natürliche Folge davon ist, dass die Anziehung aller Atome zu einander schwächer wird, dass sie äusseren Ursachen, die sie von ihrem Platze zu verschieben streben, einen geringeren Widerstand als vorher entgegensetzen.

Darin liegt der grosse Unterschied der organischen Körper von den Mineralsubstanzen, dass sie Verbindungen höherer Ordnungen sind; obwohl nur aus drei oder vier, höchstens fünf Elementen bestehend, sind ihre Atome dennoch weit zusammengesetzter. Ein Kochsalz-, ein kleinstes Zinnobertheilchen stellt eine Gruppe von nicht mehr als zwei Atomen dar, ein Zuckeratom hingegen enthält sechsunddreissig, ein kleinstes Olivenöltheilchen enthält mehrere hundert einfache Atome. In dem Kochsalz äussert sich die Affinität nur nach einer, in dem Zuckeratom nach sechsunddreissig verschiedenen Richtungen hin. Ohne dass etwas hinzu kommt oder hinweg genommen wird, können wir uns die sechsunddreissig einfachen Atome in dem Zuckeratome auf tausend verschiedene Weisen geordnet denken; mit jeder Aenderung in der Lage eines einzigen von ihnen hört das zusammengesetzte Atom auf, ein Zuckeratom zu sein; denn seine ihm angehörenden Eigenschaften wechseln mit der Art der Lagerung seiner Atome.

Auf die organischen Atome, so wie auf alle Atome höherer Ordnungen müssen Ursachen von Bewegung, von Störung der Verwandtschaft Veränderungen hervorzubringen vermögend sein, welche auf einfacher zusammengesetzte Atome, auf Mineralsubstanzen z. B., ohne allen zersetzenden Einfluss sind.

Von der grösseren Zusammengesetztheit und der geringeren Kraft, mit welcher die Elemente der organischen Körper sich gegenseitig anziehen, hängt ihre leichtere Zersetzbarkeit durch die Wärme z. B. ab; ihre Atome, einmal in Bewegung gesetzt, oder durch die Wirkung der Wärme in grössere Entfernung von einander gebracht, ordnen sich zu einfachen zusammengesetzten Atomen, in welchen die anziehende Kraft nach einer geringeren Anzahl von Richtungen hin wirkt, und in welchen sie weiteren Störungen einen desto stärkeren Widerstand entgegensetzt.

Die Mineralien, die anorganischen Verbindungen, sind durch die freie, ungehinderte Wirkung der chemischen Verwandtschaft entstanden, aber die Art und Weise ihres Zusammentretens, ihrer Lagerung war abhängig von äusseren fremden hierbei mitwirkenden Ursachen; diese letzteren waren das Bedingende in Hinsicht auf die Form und ihre Eigenschaften. Wäre die Temperatur während der Verbindung höher oder niedriger gewesen, so würden sie zu ganz anderen Gruppen zusammengetreten sein.

In ganz gleicher Weise wie die Wärme bei den anorganischen Verbindungen, ist Wärme, Licht und vorzüglich die Lebenskraft die bedingende Ursache der Form und der Eigenschaften der in den Organismen erzeugten Verbindungen; sie bestimmt die Anzahl der Atome, die sich vereinigten, und die Art und Weise ihrer Lagerung. Wir können einen Alaunkrystall aus seinen Elementen, aus Schwefel, Sauerstoff, Kalium und

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_126.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)