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sie gebildet wurden; die in dem Leibe der Pflanzen und Thiere erzeugten Stoffe erleiden in der Atmosphäre und unter dem Einfluss des Wassers eine Reihe von Veränderungen, deren letzte die Ueberführung ihres Kohlenstoffs in Kohlensäure, ihres Wasserstoffs in Wasser, ihres Stickstoffs in Ammoniak, des Schwefels in Schwefelsäure ist. Durch die nach dem Tode eintretenden Processe nehmen ihre Elemente ihre ursprüngliche Form wieder an, in der sie einer neuen Generation als Nahrungsmittel dienen können; die aus der Luft stammen, kehren in die Atmosphäre, die, welche die Erde lieferte, kehren zur Erde zurück. Der Tod, die Auflösung einer untergegangenen Generation ist die Quelle des Lebens für eine neue. Dasselbe Kohlenstoffatom, welches als Bestandtheil der Muskelfaser in dem Herzen eines Menschen das Blut durch dessen Adern treibt, es war vielleicht ein Bestandtheil des Herzens einer seiner Vorfahren, das Stickstoffatom in unserem Gehirn, es war vielleicht ein Bestandtheil des Gehirns eines Aegypters, eines Negers. So wie der Geist der Menschen der gegenwärtigen Generation aus den Erzeugnissen der geistigen Thätigkeit der Vorwelt die zu seiner Entwickelung und Ausbildung dienende Nahrung schöpft, so können die Elemente der Leiber einer vorangegangenen Generation übergehen und zu Bestandtheilen unseres eigenen lebendigen Leibes werden.

Die nächste Ursache der nach dem Tode der Organismen eintretenden Veränderungen ist die Wirkung, welche der Sauerstoff der Luft auf manche ihrer Bestandtheile ausübt. Diese Wirkung ist bedingt durch eine gewisse Temperatur und findet nur bei Gegenwart von Wasser statt. Die Frostkälte und die Siedhitze heben diese Processe auf.

Sehr deutlich sieht man den Einfluss des Sauerstoffs der Luft an Früchten und weichen Pflanzentheilen, wenn durch Verletzung ihrer Oberfläche der Saft mit Luft in Berührung kommt. An einem Apfel, der durch einen Stoss gequetscht wird, beginnt von der verletzten Stelle aus ein Zersetzungsprocess, es entsteht ein brauner Fleck, der in einem regelmässig concentrischen Kreise zunimmt, bis zuletzt der ganze Apfel morsch wird und in eine braune, weiche, schmierige Masse sich verwandelt hat. Der Saft einer Weintraube, durch die äussere Schale vor der Berührung mit der Luft geschützt, erleidet kaum eine merkliche Veränderung, die Traube trocknet allmählich zur Rosine aus; die kleinste Verletzung der Hülle aber reicht hin, um in kurzer Zeit die Beschaffenheit des Saftes zu ändern. Zerschneiden wir eine Kartoffel, eine Runkelrübe, so färbt sich in wenigen Minuten die weisse Schnittfläche braun.

Ganz ähnlich wie die Pflanzensäfte verhalten sich die thierischen Flüssigkeiten; die Milch in dem Euter der Kuh, der Harn in der Harnblase erleiden im gesunden Zustande keinen Wechsel in ihren Eigenschaften, aber mit der Luft in Berührung, gerinnt die Milch und wird sauer, es scheidet sich der Käsestoff ohne alle Gasentwickelung in Gestalt einer gallertartigen Masse ab; der saure Harn wird alkalisch und entwickelt, nach einiger Zeit mit einer Säure versetzt, unter Aufbrausen kohlensaures Gas.

In gleicher Weise stellt sich in den Leibern der Menschen und Thiere, nach ihrem Tode, ein Zersetzungsprocess ein, welcher in dem Innern des Körpers an den Stellen zuerst und vorzugsweise beginnt,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_130.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)