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Gegenwart von Wasser augenblicklich übergeht, eine zersetzende Wirkung auf andere Bestandtheile der nämlichen Samen ausübt, verhalten sich die dem Pflanzenkäse ähnlich zusammengesetzten schwefel- und stickstoffhaltigen Bestandtheile beinahe aller Pflanzensamen und namentlich der in den Getreidearten enthaltene sogenannte Kleber.

Roggenmehl, Weizenmehl und andere Mehlsorten geben mit der zwanzigfachen Menge Wasser von fünfundsiebenzig Grad einen dicken Kleister, der nach wenigen Stunden schon in dieser Temperatur dünnflüssig wird und einen rein süssen Geschmack annimmt; das Amylon des Mehls nimmt eine gewisse Menge Wasser auf und geht in Folge einer neuen Ordnungsweise seiner Atome zuerst in eine Art Gummi, sodann in Traubenzucker über. Diese Umwandlung wird bedingt durch den in Zersetzung übergehenden Kleber des Mehls; das Flüssigwerden des Teiges in der Brodbereitung beruht auf derselben Ursache.

Bei dem Keimen des Getreides geht ganz dieselbe Zuckerbildung vor sich; alles in dem Weizen-, Roggen-, Gerstensamen enthaltene Stärkmehl wird mit der Entwickelung des Keimes durch den Einfluss der daneben liegenden Klebertheilchen in Zucker überführt. Der Kleber selbst nimmt ganz veränderte Eigenschaften an, er wird, wie das Stärkmehl in Wasser löslich. Wird der wässerige Auszug des gekeimten Getreides (des Malzes), die sogenannte Würze in der Bierbereitung, bis zum Sieden erhitzt, so scheidet sich eine Menge dieses löslich gewordenen Klebers in einem Zustande ab, in welchem er sich vom geronnenen thierischen Eiweiss den Eigenschaften und der Zusammensetzung nach nicht mehr unterscheiden lässt. Der übrige Theil des Klebers befindet sich in der Würze in Auflösung; wenn sie mit Hopfen gekocht, durch Eindampfen concentrirt und nach dem Abkühlen mit Bierhefe versetzt wird, so erhält man nach vollendeter Gährung das Bier, und es scheidet sich der aufgelöst gebliebene Kleber als Bierhefe ab, deren Menge zwanzig bis dreissigmal mehr als die zugesetzte Hefe beträgt.

In der lebenden Natur beobachten wir in einem grossen Massstabe Erscheinungen ähnlicher Art, welche von ganz gleichen oder ähnlichen Ursachen bedingt werden. Viele Holzpflanzen enthalten gegen den Herbst hin in der Holzsubstanz abgelagert eine dem Stärkmehl der Kartoffeln oder der Getreidearten ganz gleiche Substanz, welche mit dem erwachenden Leben in der Pflanze im Frühling in Zucker übergeführt wird. Der aufsteigende Saft des Ahorns ist so reich an Zucker, dass man ihn an Orten, wo er als Wald vorkommt, zur Zuckergewinnung benutzt. Wir haben allen Grund zu glauben, dass dieser Zucker in Folge einer ähnlichen Umsetzung gebildet wird, wie der Zucker in keimenden Samen.

Das Süsswerden oder das sogenannte Nachreifen des Winterobstes auf dem Lager ist der Erfolg einer wahren Gährung. Die unreifen Aepfel und Birnen enthalten eine beträchtliche Menge Stärkmehl, welches durch den in Zersetzung übergehenden stickstoffhaltigen Bestandtheil des Saftes in Zucker übergeführt wird.

Als ein Product der Gährung von Fichtenreisig (der Blätter und kleinen Zweige) hat Redtenbacher neuerdings die Ameisensäure aufgefunden. Diese Entdeckung ist um so interessanter, da sie wahrscheinlich der Schlüssel zu dem Gehalte dieser Säure in den Ameisen ist, namentlich

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_141.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)