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sich Wasserstoffgas und viele brennbare Körper; erst in gewissen Wärmegraden äussert sich ihre Verwandtschaft zum Sauerstoff.

Auch in dem Verwesungsprocess hat man den merkwürdigen Einfluss erkannt, den eine im Zustande der Umsetzung oder Thätigkeit begriffene Materie auf die Theilchen einer daneben liegenden ausübt, welche für sich allein nicht fähig ist, in den nämlichen Zustand der Umsetzung, Veränderung oder Thätigkeit überzugehen.

Bei Berührung mit einer verwesenden Substanz zeigen nämlich eine Menge Materien bei gewöhnlicher Temperatur Verwandtschaft zum Sauerstoff, sie gehen eine Verbindung mit ihm ein, welche sonst erst durch höhere Hitzgrade vermittelt werden kann. Der Zustand der Sauerstoffaufnahme eines verwesenden Körpers überträgt sich auf alle Materien, die sich damit in Berührung befinden, sie verhalten sich wie wenn sie Theile oder Bestandtheile desselben wären, und ihre Verbindung mit dem Sauerstoff wird auf eine ähnliche, nicht weiter erklärbare Weise wie durch die Wärme vermittelt. Die Berührung mit einer verwesenden Materie ist die Hauptbedingung der Verwesung für alle andere organische Substanzen, denen das Vermögen, sich mit Sauerstoff zu verbinden, bei gewöhnlicher Temperatur nicht zukommt. In Folge der vor sich gehenden Verbindung ihrer Elemente mit dem Sauerstoff steigt die Temperatur der verwesenden Materien über die des umgebenden Mediums; allein so gross auch der Einfluss ist, den die Wärme auf die Beschleunigung des Vorganges ausübt, sie ist nicht, wie in anderen chemischen Processen, die Ursache der Verwandtschaftsäusserung zum Sauerstoff.

Hängt man in einer Flasche voll gewöhnlicher Luft, der man eine gewisse Menge Wasserstoffgas zugesetzt hat, einen mit feuchten Sägespänen, Seide, Dammerde etc. gefüllten Leinwandbeutel auf, so fahren diese Materien fort, ganz wie in freier Luft, zu verwesen, sie verwandeln das sie umgebende Sauerstoffgas in Kohlensäure; das Bemerkenswertheste hierbei ist nun, dass auch der zugesetzte Wasserstoff verwest, dass er durch die Berührung mit diesen verwesenden Substanzen die Fähigkeit erhält, sich bei gewöhnlicher Temperatur mit Sauerstoff zu verbinden. Wenn es an Sauerstoff nicht mangelt, so wird aller Wasserstoff in Wasser zurückgeführt.

Ganz wie das Wasserstoffgas verhalten sich andere brennbare einfache und zusammengesetzte Gase. Der Dampf von Weingeist z. B. in einem Raume, welcher verwesendes Holz oder andere verwesende Substanzen enthält, nimmt, wie das Wasserstoffgas, Sauerstoff aus der Luft auf, er verwandelt sich in Aldehyd, sodann in Essigsäure, welche, indem sie tropfbar-flüssig wird, sich der weiteren Einwirkung des Sauerstoffs entzieht. Auf diese Eigenschaft verwesender Substanzen, die Anziehungen aller organischen Körper zum Sauerstoff und namentlich die des Weingeistes zu erhöhen, gründet sich die sogenannte Schnellessigfabrikation.

Während sonst die Ueberführung gegohrener Flüssigkeiten in Essig, des unvollkommenen Zutritts der Luft wegen, Wochen und Monate lang dauerte, ist man jetzt dahin gelangt, den Weingeist in weniger als 24 Stunden in Essig zu verwandeln, hauptsächlich dadurch, dass man den mit Wasser verdünnten Branntwein durch Fässer langsam fliessen lässt, welche mit gehauenen oder gehobelten Holzspänen angefüllt sind,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_149.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)