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Wenn man ferner ins Auge fasst, dass die Wirkung der Hefe sich nicht auf den Zucker allein beschränkt, dass andere Materien von einer ganz verschiedenen Zusammensetzung in Berührung damit eine ähnliche Zersetzung wie der Zucker erleiden, dass Gerbsäure in einer gährenden Zuckerlösung in Gallussäure, die Aepfelsäure des äpfelsauren Kalkes in Bernsteinsäure, Essigsäure, Kohlensäure übergeführt werden, dass eine thierische Membran oder der weisse Bestandtheil der süssen Mandeln, Materien, welche eine von Kleber verschiedene Zusammensetzung haben, im Zustand der Fäulniss ganz dieselbe Zersetzung, wie die Hefe, hervorbringen, so ergiebt sich von selbst, dass die eigenthümliche Wirkung der Hefe auf einer allgemeineren Ursache beruht und nicht abhängig vom Zucker, und die Spaltung des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure nicht abhängig ist von einer constanten Beschaffenheit der Hefe.

Die Beobachtung zeigt, dass die Bierhefe, sich selbst überlassen, ihre Eigenschaft, die Alkoholgährung zu erregen, sehr rasch verliert, dass sie dieselbe einbüsst, wenn sie bis zur Zerstörung aller organischen Form auf einem Reibstein zerrieben wird, dass aber damit ihre zersetzende Wirkung auf organische Materien überhaupt nicht verschwindet. Denn sie gewinnt dadurch jetzt die Fähigkeit, Zucker in Milchsäure, und die Milchsäure des milchsauren Kalkes in Buttersäure, Mannit, Wasserstoffgas und Kohlensäure überzuführen; es sind dies Wirkungen, welche wahrgenommen werden, ohne dass eine vegetabilische Bildung dabei nachweisbar ist.

Alles dies zusammengenommen beweist, dass weder die organische Form, noch die chemische Zusammensetzung, sondern lediglich ein gewisser Zustand des in den Hefenzellen enthaltenen stickstoffhaltigen Bestandtheils als die Ursache der Zersetzung des Zuckers in der Alkoholgährung angesehen werden muss.

Die Gährung des Weins und der Bierwürze ist keine für sich isolirt stehende Erscheinung, sondern es sind einzelne Fälle von vielen andern, die in dieselbe Classe gehören. Die Alkoholgährung, in so fern sie von der Bildung oder Zersetzung von Pilzen begleitet ist, unterscheidet sich von andern Gährungen, in denen keine pflanzlichen Gebilde wahrgenommen werden, dadurch, dass die Producte, die sich aus dem Kleber bilden, neben den chemischen noch gewisse vitale Eigenschaften besitzen; der Kleber, das Pflanzenalbumin, Pflanzencasein der Pflanzensäfte erregen Gährung, weil sie in Zersetzung übergehen, ihre Wirkung beruht auf dem Zustand des Wechsels in der Form und Beschaffenheit ihrer Elementartheilchen; indem sie sich verändern und abgeschieden werden, nehmen sie in Folge der Mitwirkung anderer untergeordneter Bedingungen die Formen eines niederen Pflanzengebildes an, deren vitale Eigenthümlichkeiten auf einem Uebergangszustand beruhen und mit dessen Vollendung erlöschen. Als Pilz oder Alge hat die Hefenzelle keine selbstständige Existenz.

Als einzelner Fall bedarf die Zuckergährung keiner besonderen Erklärung, indem sich dem Vorgang kein anderer Ausdruck unterlegen lässt, als der, welcher in den vorhergehenden Briefen entwickelt ist. Der Zucker zerlegt sich in Alkohol und Kohlensäure in Folge einer Aufhebung des Gleichgewichts in der Anziehung seiner Elemente, welche

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_161.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)