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sie überall hingelangt, wo sein Zutritt in der Form von Luft gehindert oder verschlossen ist.

Es ist klar, dass Infusorien nur an Orten zum Vorschein kommen, sich entwickeln und vermehren können, wo die ihnen nöthige Nahrung in der zur Aufnahme geeigneten Form in Ueberfluss dargeboten wird. Durch zwei Bestandtheile, welche der unorganischen Natur angehören, zeichnen sich mehrere, und zwar sehr verbreitete Arten von anderen aus: Diese sind Kieselerde, woraus die Schalen oder Panzer vieler Navicula-Arten, Exilarien, Bacillarien etc. bestehen, und Eisenoxyd, welches einen Bestandtheil vieler Gallionellen ausmacht. Der kohlensaure Kalk der Kreidethierchen ist den Gehäusen der gewöhnlichen Schalthiere völlig gleich.

Man hat sich darin gefallen, die ungeheuren Ablagerungen von Kieselerde, Kalk und Eisenoxyd in der Kieselguhr, dem Polirschiefer, dem Tripel, der Kreide, den Rasen- und Sumpferzen, dem Lebensprocess vorweltlicher Infusorien, die Bildung dieser Gebirgslager ihrer Lebensthätigkeit zuzuschreiben; allein man bedachte hierbei nicht, dass die Kreide, Kieselerde und das Eisenoxyd als nothwendige Bedingungen ihres Lebens vorhanden sein mussten, ehe sie sich entwickelten, dass diese Bestandtheile noch heute in dem Meere, den Seen und Sümpfen niemals fehlen, wo dieselben Thierclassen vorkommen.

Das Wasser, worin die vorweltlichen Infusorien lebten, enthielt die Kieselerde und die Kreide in Auflösung, ganz geeignet, um sich in der Form von Marmor, Quarz und verwandten Gesteinen durch Verdunstung abzusetzen. Diese Abscheidung wäre unzweifelhaft in der gewöhnlichen Weise erfolgt, wenn das Wasser nicht nebenbei die faulenden und verwesenden Ueberreste vorangegangener Thiergeschlechter und durch sie die anderen Bedingungen zum Leben der Kiesel- und Kalk-Infusorien enthalten hätte.

Ohne diese Substanzen zusammen vereinigt, würde keine dieser Thierclassen sich fortgepflanzt und zu so ungeheuren Massen vermehrt haben; sie waren nur zufällige Vermittler der Form, welche die kleinen Theilchen zeigen, woraus diese Ablagerungen bestehen; zufällig in so fern auch ohne diese Thiere die Abscheidung des Kalkes, der Kieselerde und des Eisenoxydes erfolgt wäre. Das Meerwasser enthält den Kalk der Korallenthiere, der zahllosen Schalthiere, die in diesem Medium leben, in der nämlichen Form und Beschaffenheit wie in den Seen und Sümpfen enthalten war, worin die Kreidethierchen oder die Schalthiere, aus deren Gehäuse die Muschelkalk-Formation besteht, sich entwickelten.

Die Anhänger der Ansicht, nach welcher die Fäulniss eine Zersetzung organischer Stoffe, bedingt durch Infusorien und Pilze ist, betrachten einen faulenden Körper als eine Infusorienhecke oder Pilzplantage, und wo organische Körper auf weiten Strecken in Fäulniss gerathen, müsse die ganze Atmosphäre mit Keimen derselben angefüllt sein. Die Keime dieser organischen Wesen, in so fern sie sich in dem Leibe der Menschen und Thiere entwickeln, sind nach ihnen die Keime von Krankheitsursachen, aus ihnen bestehen die Contagien und Miasmen.

Die Grundlage dieser sogenannten Parasitentheorie lässt sich auf zwei Thatsachen zurückführen; die eine ist die Fortpflanzung der Krätze; die andere eine bei den Seidenraupen vorkommende Krankheit, die Muscardine.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_166.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)