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Es ist wunderbar genug, dass die in den Organismen thätige Kraft aus nicht mehr wie vier Elementen eine selbst in mathematischer Bedeutung unendliche Anzahl von Verbindungen hervorzubringen fähig ist; dass mit ihrer Hülfe aus Kohlenstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff Körper entstehen, die alle Eigenschaften der Metalloxyde oder der anorganischen Säuren und Salze besitzen; dass an der Grenze der Verbindungen sogenannter anorganischer Elemente eine Reihe von organischen Elementen beginnt, so umfassend, dass wir sie noch gar nicht übersehen können. Wir sehen die ganze anorganische Natur, alle die zahlreichen Verbindungen der Metalle und Metalloide reproducirt in der organischen; aus Kohlenstoff und Stickstoff, aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, aus Stickstoff und Wasserstoff entstehen zusammengesetzte Atome, welche ihren Eigenschaften nach dem Chlor, oder dem Sauerstoff, oder dem Schwefel, oder einem Metall vollkommen gleichen, und zwar nicht nur in einzelnen wenigen, sondern in allen Eigenschaften.

Man kann sich kaum etwas Merkwürdigeres denken, als dass aus Kohlenstoff und Stickstoff eine gasförmige Verbindung (das Cyan) hervorgeht, in welcher Metalle unter Licht- und Wärme-Entwickelung wie im Sauerstoffgas verbrennen, ein zusammengesetzter Körper der seinen Eigenschaften und seinem Verhalten nach ein einfacher Körper, ein Element ist, dessen kleinste Theile die nämliche Form wie die des Chlors, Broms und Jods besitzen, indem er sie in ihren Verbindungen ohne alle Aenderung der Krystallform vertritt. In dieser und keiner andern Form schafft der lebendige Körper Elemente, Metalle, Metalloide, Gruppen von Atomen so geordnet, dass die in ihnen thätigen Kräfte nach viel mannichfaltigeren Richtungen hin zur Aeusserung gelangen; allein es giebt in der Natur keine Kraft, die etwas aus sich selbst erzeugt und schafft, keine, welche fähig ist, die Ursache zu vernichten, welche der Materie ihre Eigenschaft giebt; das Eisen hört nie auf Eisen, der Kohlenstoff Kohlenstoff, der Wasserstoff Wasserstoff zu sein; aus den Elementen der organischen Körper kann nie Eisen, es kann kein Schwefel, kein Phosphor daraus entstehen. Auf die Zeit, in welcher Meinungen dieser Art geduldet und gelehrt wurden, wird man in einem halben Jahrhundert mit dem Lächeln des Mitleids zurückblicken; es liegt einmal in der Natur des Menschen, sich Meinungen dieser Art überall zu schaffen, wo sein Geist, wie in der Kindheit, zu unentwickelt ist, um die Wahrheit zu begreifen.

Aehnlich wie die Erwerbung der gewöhnlichsten Bedürfnisse des Lebens, sind die geistigen Güter, die Kenntnisse, welche unsere materiellen Kräfte steigern und erhöhen, die Einsicht und die Erkenntniss der Wahrheit immer nur Früchte der Arbeit und Anstrengung. Nur wo der feste Wille fehlt, ist Mangel, die Mittel sind überall.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_169.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)