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Zweiundzwanzigster Brief.


Durch die Natur selbst, welches ein Ganzes ist, stehen die Naturwissenschaften in einem nothwendigen Verband mit einander, so dass keine derselben alle anderen zu ihrer Ausbildung völlig entbehren kann; die Erweiterung der einzelnen Gebiete in Folge ihrer Bearbeitung bringt es mit sich, dass in einer gewissen Periode zwei derselben an ihren Grenzen sich berühren. In dem Grenzgebiet bildet sich in der Regel eine neue Wissenschaft aus, welche den Gegenstand und die Betrachtungsweise der beiden Disciplinen in sich vereinigt; beide müssen, um in dieser Weise ineinandergreifen zu können, eine gewisse Stufe der Vollendung erreicht haben; die Selbstständigkeit des Hauptgebietes muss gesichert sein, denn eher wenden sich die Kräfte der Bearbeiter dem Anbau des Grenzgebietes nicht zu. Einer solchen Verschmelzung der Physiologie mit der Chemie sehen wir, als einer der bemerkenswerthesten Erscheinungen in der neueren Zeit entgegen. Die Physiologie ist an dem Punkte angelangt, wo sie die Chemie zur Erreichung ihres Zieles, der Erforschung der Lebenserscheinungen in ihrer Aufeinanderfolge nicht mehr entbehren kann; die Chemie, welche nachweisen soll, in welchem Verhältniss die vitalen Eigenschaften abhängig sind von den chemischen Kräften, ist vorbereitet, um neue Gebiete zu selbstständiger Bearbeitung in sich aufzunehmen.

Die Erscheinungen, welche die Thiere während ihres Lebens darbieten, gehören zu den zusammengesetztesten in der Natur, und es ist der Nachweis ihrer verschiedenen Ursachen, so wie die Ermittelung des Antheils, den jede einzelne daran hat, mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft.

Es ist eine Regel in der Naturforschung, in dem Studium einer Erscheinung jede einzelne Schwierigkeit, welche untersucht werden soll, in so viel Theile, als man kann, zu scheiden, und einen jeden für sich der Beobachtung zu unterwerfen. Nach diesem Grundsatz lassen sich alle physiologischen Erscheinungen in zwei Classen trennen, von denen eine jede bis zu einer gewissen Grenze ganz unabhängig von der anderen studirt werden kann; in der Natur findet, wie sich von selbst versteht, eine solche Trennung nicht statt, beide Classen von Erscheinungen sind von einander abhängig, so zwar, dass sie sich gegenseitig bedingen.

Die Vorgänge der Befruchtung, der Entwickelung und des Wachsthums der Thiere, die Beziehungen ihrer Organe zu einander und die diesen zukommenden Thätigkeiten, die Gesetze ihrer Bewegung und der Bewegung der flüssigen Bestandtheile des Thierkörpers, die Eigenthümlichkeiten der Nerven- und Muskelfaser, alle diese auffallenden und merkwürdigen Erscheinungen lassen sich ermitteln ohne besondere Rücksicht auf die Materie oder den Stoff, aus dem die Träger derselben bestehen.

Aber die Physiologie hat es noch mit anderen, nicht minder wichtigen Erscheinungen zu thun. Die Verdauung, Blutbildung, Ernährung, Athmung und Absonderung beruhen auf einer Form- und Beschaffenheitsänderung der von aussen dem Organismus zugeführten Stoffe oder

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_170.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)