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zwar eine genau eben so viel von diesen drei Elementen als die andere; der Milchzucker enthält nicht mehr Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff als die Baumwollenfaser und die Sauerkrautsäure. Eben so sind Rohrzucker und Gummi aus ganz gleichen Bestandtheilen zusammengesetzt. Sie Alle wissen, dass ein Hühnerei im siedenden Wasser hart wird; dabei ändert sich nichts in der Zusammensetzung des Eiweisses, nichts tritt von aussen hinzu oder wird davon gethan, die Elemente haben nur eine andere Lage angenommen, und dieser Lagerungsveränderung entsprechen jetzt andere Eigenschaften. So beruht auch der Unterschied des Gummi’s und Rohrzuckers, der Sauerkrautsäure und Baumwollenfaser nur auf einer verschiedenen Ordnungsweise derselben Elemente, die sie in gleichem Verhältniss enthalten. Das Strychnin enthält Kohlenstoff, Stickstoff und die Elemente des Wassers; es wirkt auf den lebenden Körper als furchtbares Gift. Das Chinin enthält dieselben Elemente und wirkt auf den Organismus als heilsame Arzenei. Das Caffeïn enthält auch dieselben Elemente; es wird täglich im Thee und Kaffee genossen ohne eine giftige oder arzeneiliche Wirkung auszuüben. Alle Stoffe, aus denen sich das Blut bildet, enthalten Stickstoff, Kohlenstoff und die Elemente des Wassers. Es ist ganz unmöglich die giftigen, arzeneilichen oder ernährenden Eigenschaften des Strychnins, Chinins, der blutbildenden Stoffe dem Kohlenstoff, Stickstoff oder den Elementen des Wassers zuzuschreiben. Der ausserordentliche Unterschied ihrer Eigenschaften ist abhängig von der Ordnungsweise der Elemente in ihnen; in einer gewissen Richtung gelagert hemmen, in einer anderen befördern, in einer dritten unterhalten sie den Lebensprocess. Die chemische Elementaranalyse giebt also nicht den mindesten Anhaltepunkt zur Beurtheilung oder Erklärung der Eigenschaften von organischen Verbindungen; alle Bemühungen der Chemiker sind darum in der neueren Zeit darauf gerichtet, die Ordnungsweise der Elemente in den verschiedenen Producten des Pflanzenlebens zu erforschen, denn von dieser Ordnungsweise sehen wir die Wirkungen abhängig.

Wenn der Chemiker von seinem Standpunkt aus ein Haus der chemischen Analyse unterwerfen würde, so würde er sagen, dass es aus Silicium, Sauerstoff, Aluminium, Calcium, etwas Eisen, Blei und Kupfer, aus Kohlenstoff und den Elementen des Wassers bestehe. Sie würden damit nicht den allergeringsten Begriff von der Einrichtung eines Hauses erlangen. Das Calcium, der Kohlen- und Sauerstoff woraus der Mörtel, das Silicium, Aluminium, der Sauerstoff woraus die Ziegelsteine, der Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff woraus das Holz besteht, wirken nicht als Elemente, sondern als Mörtel und Stein woraus die Wände, als Glas woraus die Fenster, als Holz woraus Tische und Bänke bestehen; nur wenn die Elemente in der Form von Holz, Stein, Glas etc. zusammengefügt sind, entsteht aus diesen das Haus. Und wenn Ihnen Jemand beweisen wollte, dass der Pallast des Königs mit seiner ganzen inneren Einrichtung, mit Statuen und Gemälden von selbst entstanden wäre, durch ein Spiel der Naturkräfte, welche zufällig sich begegnet und die Elemente zum Haus geordnet hätten, weil ja der Mörtel aus einer chemischen Verbindung von Kohlensäure und Kalk bestehe, die ein jeder Anfänger in der Chemie darstellen könne, weil die Steine, das Glas

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_180.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)