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des Krystalls und damit seine Eigenschaften bedingt. Im lebendigen Körper kommt eine vierte Ursache hinzu, durch welche die Cohäsionskraft beherrscht wird, durch welche die Elemente zu neuen Formen zusammengefügt werden, durch die sie neue Eigenschaften erlangen, Formen und Eigenschaften, die ausserhalb des Organismus nicht bestehen. Wenn es wahr ist, dass in der anorganischen Natur eine Cohäsionskraft formenbildend besteht, so ist es eben so wahr, dass in den Organismen eine Kraft wirkt, eine Ursache der Bewegung und des Widerstandes, welche der Cohäsionskraft und ihren Aeusserungen entgegentritt, welche die Wirkungen des Sauerstoffs und die stärksten chemischen Anziehungen aufhebt und geradezu umkehrt. Wenn Sie die Personen ins Auge fassen, von denen jene Meinungen verfochten werden, so bemerken Sie sogleich, dass sie Fremdlinge sind in den Gebieten, welche die Erforschung chemischer und physikalischer Kräfte zur Aufgabe haben; kein competenter Physiker oder Chemiker hat ihnen jemals beigestimmt. Und wenn Sie unsere grossen Physiologen fragen, denen wir die Entdeckung der Thatsachen verdanken, auf welche die Leugner der Lebenskraft ihre Behauptungen stützen, so werden Sie die Antwort erhalten, dass diese Meister der Wissenschaft solche Behauptungen und Schlüsse weder für gegründet noch für gerechtfertigt ansehen. Es sind die Meinungen von Dilettanten, welche von ihren Spaziergängen an den Grenzen der Gebiete der Naturforschung die Berechtigung herleiten, dem unwissenden und leichtgläubigen Publicum auseinanderzusetzen, wie die Welt und das Leben eigentlich entstanden, und wie weit doch der Mensch in der Erforschung der höchsten Dinge gekommen sei; und das unwissende und leichtgläubige Publicum glaubt ihnen und nicht den Naturforschern, wie es an die wandernden, schreibenden, sprechenden Tische und an eine besondere Kraft im alten Holze und nicht an die Naturforscher geglaubt hat.

In einer unendlichen Reihe von Jahren, über die sie auf das Wohlfeilste verfügen, sei, so behaupten die Dilettanten, aus dem niedrigsten Organismus, der in der That als eine einfache Zelle sich darstellt, ein höherer, aus diesem ein noch höher stehender und nach und nach die ganze Mannichfaltigkeit der organischen Schöpfung entstanden; Pflanzen und Thiere bildeten eine ununterbrochene Kette, und Uebergänge könnten nicht geleugnet werden; und wenn der Mensch nichts wisse von solchen Uebergängen, so komme dies daher, weil die Zeiten, wo sie statt hatten, weiter aus einander liegen als die Geschichte der Menschen, und weil die Stufen der Uebergänge zuletzt so unmerklich seien, dass sie auch die feinste Beobachtung nicht wahrzunehmen vermöge. Das Wesen des Dilettantismus ist in dieser Darlegung klar; die Hypothese selbst hat keine Thatsachen für sich und ist darum nicht beweisbar, und indem sie erklärt, dass die Erfahrungen der Menschen unzureichend seien, um ihre Wahrheit zu prüfen, so ist sie natürlich auch nicht widerlegbar. Aber eine Schwierigkeit bleibt immer noch, welche nicht zu heben ist, dies ist die Entstehung der ersten organischen Zelle; für diese eine hat ein Schöpfungsact bestanden, alle anderen sind aus dieser einen Zelle entwickelt. Der Dilettantismus setzt, wie man sieht, voraus, dass es dem Schöpfer bequemer geworden sein müsse, anstatt vieler, der mannichfaltigsten Entwickelung fähiger Keime oder Zellen nur eine zum Leben

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_182.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)