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doch auch noch körperliche Verschiedenheiten sich finden, so gross als irgend welche, die uns zur Aufstellung verschiedener Genera und Arten von Naturkörpern nur irgend bestimmen. Die so begeistert aufgenommene und vertheidigte Kette der Wesen löste sich bei genauerer Bekanntschaft in einzelne Glieder und Typen auf, welche zwar entschieden einen Fortschritt in der Organisation darbieten und in sich entwickeln, sich aber keinesweges in unmittelbarer Reihe an einander fügen, sondern zwischen sich Sprünge und Unterschiede darbieten, wie sie nicht so gross zwischen Thier und Mensch zu sein brauchen, um beide durch eine nicht vermittelbare Kluft von einander zu trennen. – Eine genauere Einsicht in die wunderbaren Vorgänge der Entwickelung des Individuums lehrte ferner, dass es mit jener Durchlaufung des Embryo durch die niederen Thierformen Nichts sei, und der menschliche Embryo nie einem Infusorium, Wurm, Insect oder selbst Fisch und Amphibium gleicht, sondern dass es sich hierbei nur um ein höchst merkwürdiges, allen Wirbelthieren gemeinschaftliches Entwickelungsgesetz handelt, nach welchem sich dieselben auf den ersten Stufen ihrer Bildung alle einander allerdings sehr ähnlich sind, weil sie alle aus einer gleichen Summe im Anfang einander sehr ähnlicher Theile, aus Hirn und Rückenmark, Herz und Darm etc. bestehen, aus welcher sich die bleibenden Differenzen nicht blos durch höhere Ausbildung, sondern eben so oft durch Stehenbleiben auf einer gewissen Entwickelungsstufe und selbst durch Rückschreiten hervorbilden. –“

Die strenge wissenschaftliche Forschung weiss demnach von einer Kette der organischen Wesen nichts.

Wie ist es nun mit der ersten Zelle?

Die Dilettanten antworten Ihnen, dass die organischen Wesen aus Kohlen-, Wasser-, Stick- und Sauerstoff nebst Schwefel bestehen, und dass in dem Conflict dieser Stoffe durch die ihnen einwohnenden Kräfte es irgend einmal möglich gewesen sein müsse, dass die Bestandtheile einer Zelle, die Zelle selbst und der Organismus sich gebildet hätten. Der Chemiker könne in seinem Laboratorium eine Menge von Stoffen erzeugen, welche sonst nur die Pflanze oder das Thier in ihrem Organismus hervorbringen; er könne aus Holz Zucker machen, das Taurin der Galle und den Harnstoff darstellen, warum sollte der Kohlenstoff, Wasserstoff und die anderen Elemente nicht einmal zu einem organischen Bildungsmaterial zusammentreten und einen Keim erzeugen können? Aber was jene Dilettanten organische Verbindungen nennen, sind gar keine solchen, sondern chemische, welche die Bestandtheile der organischen enthalten; das Taurin aus der Galle und aus dem Laboratorium sind nicht von einander zu unterscheiden, es ist eine durch chemische, nicht durch organische Kräfte gebildete Verbindung. Es ist klar wie die Sonne: in dem lebendigen Leibe wirken auch chemische Kräfte. Was die Chemie vor dreissig Jahren behauptete ohne es beweisen zu können, beweist sie jetzt. Unter dem Einfluss einer nicht chemischen Ursache wirken in dem Organismus auch chemische Kräfte. Nur in Folge dieser beherrschenden Ursache und nicht von selbst ordnen sich die Elemente und treten zu Harnstoff, zu Taurin zusammen, wie der intelligente Wille des Chemikers sie ausserhalb des Körpers zwingt zusammenzutreten.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_184.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)