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Wenn Sie die Schlüsse dieser Leute entkleiden von dem geborgten Flitter und Tand, von allen ihren Scheinbeweisen, die in der Wirklichkeit, in den Augen der Forscher und Denker nur beleuchteter Nebel sind, so bleibt übrig, dass die Beine zum Laufen und dass das Gehirn zum Denken da sei, und dass das Denken gelernt werden müsse, so wie das Kind das Laufen lerne, dass wir ohne Beine nicht gehen und ohne Gehirn nicht denken können; dass eine Verletzung der Fortbewegungswerkzeuge das Gehen und eine Verletzung der Werkzeuge des Denkens das Denken ändert. Aber das Fleisch und die Knochen, woraus die Beine bestehen, bewegen sich nicht, sondern sie werden bewegt durch eine Ursache, die nicht Fleisch und Bein ist, sie sind die Werkzeuge der Kraft; die weiche Masse, die man Gehirn nennt, ist das Werkzeug der Ursache, welche die Gedanken erzeugt. Das Gehirn ist das einzige innere Organ, auf welches der Wille des Menschen direct eine Macht ausübt; weder auf die Bewegungen des Herzens noch des Magens hat der Wille unmittelbaren Einfluss, aber der Einfluss einer einem Knaben im rechten Augenblick applicirten Ohrfeige auf das Begreifen eines mathematischen Lehrsatzes ist jedem Lehrer geläufig. Das Auge, das Ohr sind die Werkzeuge zur Wahrnehmung der Licht- und Schallwellen.

Die Dilettanten behaupten, die Gedanken seien Producte des Stoffwechsels des Gehirns, so wie die Galle ein Product des Stoffwechsels der Leber. Aber die exacte Physiologie weiss bis jetzt nichts von den Beziehungen, in welchen die Galle, das Secret, zu dem Stoffwechsel der Leber, des Secretionsorganes, steht, und was die Chemie darüber erforscht hat, beweist, dass die Elemente der Galle in keiner Beziehung zu denen der Leber stehen.

So wie die Harfe tönt, wenn ihre Saiten der Wind bewegt, so denkt das Gehirn durch den Stoffwechsel; so hört das Ohr, so sieht das Auge; aber das Gehirn an sich denkt keine Gedanken, das Ohr hört nicht die Musik, das Auge sieht nicht die leuchtende Sonne, den grünen Baum, es empfindet nicht die Sprache des Augenpaars, was ihm Liebe zustrahlt; die Nerven fühlen keinen Schmerz, keinen Wechsel der Temperatur, nichts Hartes oder Weiches, nichts Rundes oder Scharfes. Der geistige[1] Mensch ist nicht das Product seiner Sinne, sondern die Leistungen der Sinne sind Producte des intelligenten Willens im Menschen.

Wir wissen, dass ein Stoffwechsel die Kraft in der Dampfmaschine erzeugt. Das Holz, die Kohlen verbrennen, sie wechseln ihre Eigenschaften. Durch einen Stoffwechsel in der galvanischen Säule durch die Auflösung eines Metalls in einer Säure, entsteht ein elektrischer Strom; dieser wird zum Magneten, der eine Maschine treibt. Alles lässt uns vermuthen, dass auch in dem thierischen Körper die mechanische Kraft, welche die willkürliche oder unwillkürliche Bewegung der Glieder bedingt, mit dem Stoffwechsel und namentlich im Muskelsystem in Verbindung steht; allein die Beziehung selbst ist uns noch gänzlich unbekannt. Was wir davon wissen, ist, dass die Kraft im Organismus nicht erzeugt wird, wie in der Dampfmaschine, dass sie nicht erklärbar ist aus den bekannten elektrischen Gesetzen. Wir wissen, dass ein Stoffwechsel in allen Theilen des Körpers vor sich geht, dass ein Verbrauch von mechanischer Kraft Einfluss habe auf alle Werkzeuge, auf den ganzen Mechanismus des Körpers,

  1. WS: korrigiert. Im Original: giestige
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_186.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)