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von damals den Beweis liefern konnten, dass ihre Lebenskraft Alles mache, eben so wenig können die Materialisten von gestern den Beweis führen, dass die anorganischen Kräfte es thun, und für sich ausreichen den Organismus, ja den Geist hervorzubringen. Alle ihre Behauptungen gründen sich wie damals nicht auf die Bekanntschaft, sondern auf die Unbekanntschaft mit den Vorgängen. Die Wahrheit liegt in der Mitte, die sich über die Einseitigkeiten erhebt und ein formbildendes Princip, eine herrschende Idee in und mit den chemischen und physikalischen Kräften für das organische Leben anerkennt.



Vierundzwanzigster Brief.


Es giebt kaum ein augenfälligeres Beispiel für den Unterschied unserer jetzigen und früheren Methode der Untersuchung und Beweisführung in dem Gebiete der Naturerscheinungen, als die sogenannte Selbstverbrennung des menschlichen Körpers, welche als Thatsache in der Medicin anerkannt und als würdige Aufgabe für die Erklärung wissenschaftlicher Aerzte angesehen worden ist.

Vor mehr als 100 Jahren (1725) fand man die Ueberreste der Frau eines Einwohners von Rheims, Namens Millet, verbrannt in der Küche, anderthalb Fuss von dem offenen Kamine entfernt. Von dem Körper war nichts übrig als einige Theile des Kopfes, der Beine und der Wirbelbeine. Millet hatte eine hübsche Magd, es erhob sich der Verdacht gegen ihn, er sei der Mörder seiner Frau und es wurde eine Criminaluntersuchung gegen ihn eingeleitet, aber unterrichtete Experten erkannten eine menschliche Selbstverbrennung und Millet wurde als unschuldig freigesprochen. Dies ist der erste oder einer der ersten Fälle dieser sogenannten Selbstverbrennung. Wie man leicht bemerkt, entstand die Idee der Selbstverbrennung zu einer Zeit, wo man über das Wesen und die Ursache der Verbrennung eine ganz falsche Vorstellung hatte. Was bei einer Verbrennung überhaupt vorgeht, ist erst seit 80 Jahren (seit Lavoisier), und welche Bedingungen sich vereinigen müssen, damit ein Körper fortbrenne, dies ist erst seit 40 Jahren (Davy) ermittelt.

Seit diesem Falle sind, bis zu unserer Zeit, 45 bis 48 Fälle vorgekommen, die sich in der grossen Mehrzahl in Folgendem gleichen; 1) sie ereigneten sich im Winter; 2) an Branntweinsäufern im Zustand der Trunkenheit; 3) in Ländern, wo die Zimmer durch offene Kamine und Kohlpfannen geheizt werden, in England, Frankreich und Italien. In Russland und Deutschland, wo das Heizen mittelst Oefen geschieht, sind Todesfälle, die man zu den Selbstverbrennungen rechnet, ausserordentlich selten; 4) es ist zugeständlich niemals Jemand während der Verbrennung zugegen gewesen; 5) keiner von den Aerzten, welche die Fälle gesammelt und eine Erklärung derselben versucht haben, hat den Vorgang und was der Verbrennung vorausging beobachtet; 6) wieviel Brennmaterial vorhanden war, ist ebenfalls unbekannt geblieben; 7) eben so

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_188.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)