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der Vorfall ist und bleibt wahr auch ohne ihre Behauptung; aber nicht, dass sich der Todesfall in der von ihnen erdachten Weise ereignet habe und nur in dieser Weise erklären liesse. Es ist also ganz falsch, wenn sie sagen, dass sie den Fall nicht erklären wollten, denn sie erklären ihn wirklich, indem sie behaupten, der Körper sei von selbst, ohne äusseres Zuthun, durch eine in ihm selbst liegende Ursache verbrennlich geworden und verbrannt; um aber diese Erklärung einzusehen oder wahr zu finden, muss man doch offenbar nach den Gründen fragen, worauf sie sich stützt, und wenn sich herausstellt, dass gar keine Gründe dafür bestehen, oder dass die, welche angeführt werden, falsch sind, d. h. bekannten, ausgemachten Wahrheiten widersprechen, so kann man doch ihre Erklärung, wie und auf welche Art ein Mensch von selbst verbrennen könne, nicht für wahr halten!

Wenn ein Arzt erklärt, dass ein Mensch durch Erstickung oder an einer Lungenentzündung gestorben sei, so setzt dies voraus, dass er bekannt ist mit dem Vorgang oder der Krankheit, die dem Tode vorausgegangen ist, oder er muss nach dem Tode die Zeichen der Erstickung oder nach dem Oeffnen der Leiche die Merkzeichen einer Lungenentzündung erkannt und wahrgenommen haben; wenn ihm dieses Alles unbekannt geblieben ist, so ist es auch für den geschicktesten Mann ganz unmöglich eine Meinung über die Ursache des Todes auszusprechen.

Die Meinung, dass ein Mensch von selbst verbrennen könne, stützt sich nicht auf die Bekanntschaft mit dem Vorgang, sondern auf das Gegentheil von Bekanntschaft, auf die Unbekanntschaft mit allen den Ursachen oder Bedingungen, welche der Verbrennung vorhergegangen sind und die sie bewirkt haben.

Angenommen, es sei ein Mann plötzlich gestorben und eine Menge Umstände wiesen darauf hin, dass er vergiftet worden sei; eine Expertise, Leichenöffnung, chemische Untersuchung werde angeordnet, aber es finde sich kein Zeichen von Vergiftung vor, das Gift könne nicht nachgewiesen werden. Wenn nun – darauf gestützt, dass es vor 100 und mehr Jahren ein Gift gegeben habe, aqua Tofana, mit welchem viele Menschen ermordet worden seien, ein Gift, welches sich aller Nachforschung entzieht und den Tod bewirkt ohne Spuren von seiner Wirkung zu hinterlassen, – die Experten die Erklärung gäben, dass die Abwesenheit aller Zeichen der Ursache des Todes darauf hinweise, dass der Tod durch dieses italienische Gift herbeigeführt worden sei, was würde in diesem Fall ein verständiger Mann zu einem solchen Ausspruch sagen? was dazu, wenn auf die Frage, was denn die aqua Tofana wäre, die Antwort fiele, dies wisse man nicht, wie es noch Vieles gebe, was man nicht wisse, ohne dass deshalb die aqua Tofana zu bezweifeln sei.

Ganz in die Lage dieser Experten versetzen sich die Personen, welche die Todesart der Selbstverbrennung annehmen. Man findet in einem Zimmer eine Frau, einen Mann todt und verbrannt. Die Experten werden aufgefordert ihr Gutachten über den Vorgang abzugeben, sind aber nicht im Stande nachzuweisen, auf welche Weise der Brand entstanden, wie er sich auf den Körper fortgepflanzt habe; auch können sie sich über den Grad der Verbrennung oder der Zerstörung des Körpers keine Rechenschaft geben, und da seit mehr als 100 Jahren Fälle ganz

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_193.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)