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der Naturforschung, das Verhältniss zu ermitteln, welches jede einzelne Ursache an der Erscheinung nimmt. Um zur Erkenntniss der gegenseitigen Beziehungen dieser Eigenschaften zu gelangen, müssen wir zuerst diese Eigenschaften kennen zu lernen suchen und dann die Fälle ermitteln, in denen sie wechseln. Es ist ein Naturgesetz, welches keine Ausnahme hat, dass die Abweichungen in einer Eigenschaft stets und unwandelbar geleitet sind von gleichförmig entsprechenden Abweichungen in einer andern Eigenschaft, und es ist vollkommen einleuchtend, dass, wenn wir die Gesetze dieser Abweichungen kennen, wir in den Stand gesetzt sind, aus der einen Eigenschaft ohne weitere Beobachtung die der andern zu erschliessen.

Ein Naturgesetz ermitteln heisst nichts anderes, als ein solches Abhängigkeits-Verhältniss ermitteln; die Bekanntschaft mit dem Gesetz schliesst die Erklärung der Erscheinung, die Einsicht in das Wesen der Kräfte in sich ein, durch die sie bedingt wird.

Es ist bekannt, dass eine jede Flüssigkeit unter denselben Bedingungen bei einem unveränderlichen Temperaturgrade in’s Sieden geräth; dies ist so constant, dass wir den Siedepunkt als eine charakteristische Eigenschaft derselben bezeichnen.

Eine der Bedingungen der constanten Temperatur, bei welcher sich im Innern der Flüssigkeiten Dampfblasen bilden, ist der äussere Druck; mit diesem Druck wechselt bei allen Flüssigkeiten, bei einer jeden nach einem besonderen Gesetze, der Siedepunkt, er nimmt zu oder ab, wenn der Druck wächst oder kleiner wird. Einer jeden Siedetemperatur entspricht ein bestimmter Druck, einem jeden Drucke eine bestimmte Temperatur. Die Kenntniss dieses Gesetzes der Abhängigkeit des Siedepunktes des Wassers von dem Druck der Atmosphäre hat dahin geführt, durch das Thermometer festzusetzen, in welcher Höhe man sich über dem Meere befindet, durch die Abweichungen in der einen Eigenschaft eine andere zu messen.

Minder bekannt dürften die Beziehungen sein, in welchen die Siedepunkte der Flüssigkeiten zu ihrer Zusammensetzung stehen. Der Holzgeist, Weingeist und das Fuselöl des Kartoffelbranntweins sind drei Flüssigkeiten, deren Siedepunkt sehr verschieden ist. Der Holzgeist siedet bei 59°, der Weingeist bei 78°, das Fuselöl bei 135° C. Die Vergleichung dieser drei Siedepunkte ergiebt, dass der Siedepunkt des Weingeistes 19° höher als der des Holzgeistes ist (59° + 19° = 78°), der des Fuselöls ist viermal 19° höher (59 + 4 × 19 = 135°).

Jede dieser drei Flüssigkeiten liefert durch Oxydation unter gleichen Umständen eine Säure; aus dem Holzgeist entsteht Ameisensäure, aus dem Weingeist Essigsäure, aus dem Fuselöl Baldriansäure. Von diesen drei Säuren hat jede wieder ihren constanten Siedepunkt. Die Ameisensäure siedet bei 99°, die Essigsäure bei 118°, die Baldriansäure bei 175° C. Wenn man diese drei Siedepunkte mit einander vergleicht, so ergiebt sich sogleich, dass sie in einem ganz ähnlichen Verhältnisse zu einander stehen, wie die der Flüssigkeiten, aus denen die Säuren entstanden sind. Der Siedepunkt der Essigsäure ist um 19° höher als der der Ameisensäure, der Siedepunkt der Baldriansäure ist viermal 19° höher.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_208.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)