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bis auf eine geringe Menge Schwefel, welche das Eieralbumin mehr enthält, sind sie nicht blos ihren Eigenschaften, sondern auch ihrer Zusammensetzung nach identisch.

Wir beobachten nun, dass in dem befruchteten Ei, durch den Einfluss der Wärme und unter der Mitwirkung des Sauerstoffs der Luft, welcher durch die poröse Schale Zutritt hat, unter dem Einfluss der Bedingungen also, welche den Athmungsprocess begleiten, aus dem Albumin alle Theile des thierischen Leibes, Federn, Klauen, Fibern, Membranen, Zellen, die Substanz der Blutkörperchen, der Blut- und Lymphgefässe und der Knochen sich entwickeln. Es ist offenbar, das Albumin ist die Grundlage, es ist der Anfangspunkt der ganzen Reihe der eigenthümlichen Gebilde, welche die Träger aller Thätigkeiten ausmachen. Die Elemente der mit Form und Leben begabten Organe waren ursprünglich Elemente des Albumins, es sind Producte gewisser Veränderungen, welche das Albumin unter dem Einfluss der Wärme und des Sauerstoffs in belebten Organismen erleidet.

In ganz gleicher Weise wie im Ei nimmt das Albumin des Blutes in dem Bildungsprocess des Fötus, dem es von aussen zugeführt wird, die erste Stelle ein; durch seine Bestandtheile nimmt es Theil an allen Vorgängen, es bedingt die Zunahme an Masse und die Erzeugung und Wiedererzeugung aller geformten Theile im jugendlichen und erwachsenen Leibe. Das Albumin ist ein Bestandtheil des Gehirns und der Nerven, der Leber, Nieren, Milz und aller Drüsen.

Ueberall in der ganzen organischen Welt, wo sich thierisches Leben entwickelt, sehen wir die Lebenserscheinungen abhängig von der Gegenwart des Blutalbumins, die Fortdauer des Lebens ist auf’s engste geknüpft an dessen Vorhandensein in dem Blute oder in der ernährenden Flüssigkeit.

In so fern der Begriff von Bildung, Ernährung, oder Ernährungsfähigkeit untrennbar ist von einem Stoffe, dessen Eigenschaften und Zusammensetzung in dem Worte Albumin zusammengefasst sind, so sind im eigentlichen Sinne nur diejenigen Materien Nahrungsmittel, welche Albumin oder eine Substanz enthalten, welche fähig ist in Albumin überzugehen.

Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die Nahrungsmittel studiren, so gelangen wir zur Erkenntniss eines Naturgesetzes von der wunderbarsten Einfachheit.

Die gewöhnlichsten Erfahrungen geben zu erkennen, dass das Fleisch vor allen anderen Nahrungsstoffen die grösste Ernährungsfähigkeit besitzt. Der Hauptbestandtheil des Fleisches ist die Muskelfaser oder das Fleischfibrin, welches nahe an 70 Procent von dem Gewichte des trockenen, fettfreien Fleisches ausmacht; in dem Fleische ist die Muskelsubstanz mit feinen Membranen verwebt, und es verzweigen sich darin eine Menge Nerven, so wie unzählige feine mit gefärbten oder ungefärbten Flüssigkeiten angefüllte Gefässe.

Die chemische Analyse hat den Grund der Ernährungsfähigkeit des Fleisches auf eine unzweifelhafte Weise dargethan, indem sie gezeigt hat, dass das Fleischfibrin und Blutalbumin die nämlichen Elemente in denselben Verhältnissen enthalten, dass beide in dem nämlichen Verhältnisse

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_238.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)