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und es ist hiernach klar, dass in den Casein der Milch das junge Thier den Grundbestandtheil seines Blutes in einer anderen, sicher aber in der für die Entwickelung seiner Organe geeignetsten Form empfängt.

Die Ernährung der Fleischfresser und des Säuglings ist uns nach diesen Erfahrungen verständlich. Die Fleischfresser leben vom Blut und Fleisch der gras- und körnerfressenden Thiere; dieses Blut und Fleisch ist identisch in allen seinen Eigenschaften mit ihrem eigenen Blut und Fleisch; der Säugling empfängt sein Blut von dem Blute seiner Mutter; in chemischem Sinne kann man also sagen, dass das fleischfressende Thier zur Fortdauer seines Lebens sich selbst, der Säugling zu seiner Ausbildung seine Mutter verzehrt; dasjenige, was zu seiner Ernährung dient, ist seinem Hauptbestandtheil nach identisch mit dem Hauptbestandtheile seines Blutes, aus welchem sich seine Organe entwickeln.

Ganz verschieden von diesem ist dem Anscheine nach der Ernährungsprocess der pflanzenfressenden Thiere; ihre Verdauungsorgane sind minder einfach und ihre Nahrung besteht aus Vegetabilien, die in ihrer Form und Beschaffenheit nicht die geringste Aehnlichkeit weder mit Milch noch mit Fleisch besitzen. Die Frage nach dem Grund ihrer Ernährungsfähigkeit war in der That noch vor wenigen Jahrzehnten ein scheinbar unauflösliches Räthsel, und wir begreifen jetzt, wie es möglich war, dass die ausgezeichnetsten und scharfsinnigsten Aerzte den Magen als den Sitz eines Zauberers ansehen konnten, welcher bei anständiger Behandlung und guter Laune Disteln, Heu, Wurzeln, Früchte und Samen in Blut und Fleisch zu verwandeln versteht, während er im Zorne das beste Gericht verschmäht oder verdirbt.

Alle diese Räthsel sind mit Bestimmtheit und Sicherheit von der Chemie gelöst. Es hat sich herausgestellt, dass alle Theile von Pflanzen, welche Thieren zur Nahrung dienen, gewisse Bestandtheile enthalten, welche sich leicht von allen anderen dadurch unterscheiden, dass sie beim Erhitzen, wie angezündete Wolle, einen ganz eigenthümlichen Geruch verbreiten, an dem sie leicht erkennbar sind; es hat sich gezeigt, dass die Thiere zu ihrer Erhaltung und Zunahme an Masse um so weniger ihrer vegetabilischen Nahrung bedürfen, je reicher dieselbe an diesen eigenthümlichen Bestandtheilen ist; sie können nicht mit vegetabilischen Substanzen ernährt werden, worin diese Bestandtheile fehlen.

In vorzüglicher Menge sind diese Erzeugnisse des Pflanzenlebens in den Samen der Getreidearten, in den Erbsen, Linsen, Bohnen, in Wurzeln und in den Säften der sogenannten Gemüsepflanzen enthalten, sie fehlen übrigens in keiner einzigen Pflanze und in keinem ihrer Theile.

Es lassen sich diese Pflanzenbestandtheile auf drei Materien zurückführen, die in ihrer äusseren Beschaffenheit sich kaum ähnlich sind.

Wenn man frisch ausgepresste Pflanzensäfte sich selbst überlässt, so tritt nach kurzer Zeit eine Scheidung ein, es sondert sich ein gelatinöser Niederschlag ab, gewöhnlich von grüner Farbe, welcher mit Flüssigkeiten behandelt, die den Farbstoff lösen, eine grauweisse Materie hinterlässt. Diese Substanz ist unter dem Namen grünes Satzmehl der Pflanzensäfte den Pharmaceuten wohl bekannt. Der Saft der Gräser ist vorzüglich reich an diesem Bestandtheil; in grosser Menge ist er in dem Weizensamen so wie überhaupt in dem Samen der Getreidepflanzen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_240.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)