Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 255.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Unter den Elementen des Thierkörpers besitzt der Stickstoff die schwächste Anziehung zum Sauerstoff, und was noch weit auffallender ist, er raubt allen verbrennlichen Elementen, mit denen er sich verbindet, mehr oder weniger ihre Fähigkeit, mit dem Sauerstoff eine Verbindung einzugehen, d. h. zu verbrennen.

Jedermann kennt die ausnehmende Entzündlichkeit des Phosphors und Wasserstoffs, aber durch ihre Verbindung mit Stickstoff entstehen Körper, denen unter den gewöhnlichsten Verhältnissen die Eigenschaft der Entzündlichkeit und Verbrennlichkeit völlig abgeht. Der Phosphor für sich entzündet sich schon bei der Temperatur des menschlichen Körpers, er ist leicht oxydirbar durch verdünnte Salpetersäure; der weisse, der Kreide ähnliche Phosphorstickstoff wird erst in der Rothglühhitze und im Sauerstoffgase verbrennlich, ohne fortzubrennen, und wird durch verdünnte Salpetersäure nicht mehr angegriffen. Das Ammoniak, die Wasserstoffverbindung des Stickstoffs, enthält in zwei Volum drei Volum Wasserstoff, aber trotz dem grossen Gehalte an diesem so leicht entzündlichen und verbrennlichen Bestandtheil ist das Ammoniakgas durch einen glühenden Körper nicht mehr entzündlich, es brennt selbst in reinem Sauerstoffgas nicht mehr fort. Die meisten Stickstoffverbindungen sind, verglichen mit anderen, schwerverbrennlich, sie sind schwerentzündlich und werden nicht zu den Brennstoffen gerechnet, weil sie während der Verbrennung nur einen geringen Wärmegrad entwickeln, welcher nicht hinreicht, um die zunächst liegenden Theilchen auf die Entzündungstemperatur zu bringen. Nur das kohlenstoffreiche Cyan und die Blausäure sind in Gasform entzündlich und brennen angezündet fort.

In ganz ähnlicher Weise verhält sich das Albumin in dem alkalischen Blut; vergleicht man seine Fähigkeit, sich mit dem Sauerstoff zu verbinden, mit der, welche die stickstofffreien Verbindungen Milchzucker, Traubenzucker und Fett besitzen, so steht es zu diesen in einem ähnlichen Verhältniss wie etwa Silber zum Eisen, und wenn wir die Bestandtheile des thierischen Körpers nach ihrer Verbrennlichkeit, wie die Metalle, in edle und unedle ordnen wollten, so bestehen die geformten Theile desselben aus den edelsten, welche die organische Natur hervorbringt.

Ueberall, wo es den blöden Sinnen des Menschen vergönnt ist, einen Blick in die Tiefe der Schöpfung zu werfen, erkennt er die Grösse und Weisheit des Urhebers der Welt; das grösste Wunder, was er zu begreifen fähig ist, dies sind die unendlich einfachen Mittel, durch deren Zusammenwirken die Ordnung im Weltall wie im Organismus erhalten, und das Leben und die Fortdauer der organischen Wesen gesichert ist. Ohne den mächtigen Widerstand, welchen die stickstoffhaltigen Bestandtheile des Thierkörpers, ihrer eigenthümlichen Natur gemäss, vor allen anderen der Einwirkung der Atmosphäre entgegenzusetzen vermögen, würde das organische Leben nicht bestehen.

Wenn das aus den plastischen Nahrungsstoffen entstehende Blutalbumin im grösseren Grade das Vermögen besässe, die Respiration zu unterhalten, so würde es vollkommen unfähig für den Ernährungsprocess sein. Wäre das Albumin für sich zerstörbar oder veränderlich durch den eingeathmeten Sauerstoff in dem Kreislauf des Blutes, so würde der verhältnissmässig kleine Antheil, welcher täglich den Blutgefässen durch

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_255.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)