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Man hat die Verarmung und das Elend in vielen Gegenden dem überhand nehmenden Genuss von Branntwein zugeschrieben; dies ist ein Irrthum.

Der Branntweingenuss ist nicht die Ursache, sondern eine Folge der Noth. Es ist eine Ausnahme von der Regel, wenn ein gut genährter Mann zum Branntweintrinker wird. Wenn hingegen der Arbeiter durch seine Arbeit weniger verdient, als er zur Erwerbung der ihm nothwendigen Menge von Speise bedarf, durch welche seine Arbeitskraft völlig wieder hergestellt wird, so zwingt ihn eine starre unerbittliche Naturnothwendigkeit seine Zuflucht zum Branntwein zu nehmen; er soll arbeiten, aber es fehlt ihm wegen der unzureichenden Nahrung täglich ein gewisses Quantum von seiner Arbeitskraft. Der Branntwein, durch seine Wirkung auf die Nerven, gestattet ihm die fehlende Kraft auf Kosten seines Körpers zu ergänzen, diejenige Menge heute zu verwenden, welche naturgemäss erst den Tag darauf zur Verwendung hätte kommen dürfen; er ist ein Wechsel, ausgestellt auf die Gesundheit, welcher immer prolongirt werden muss, weil er aus Mangel an Mitteln nicht eingelöst werden kann; der Arbeiter verzehrt das Capital an Statt der Zinsen, daher denn der unvermeidliche Bankerott seines Körpers.

In ihrer Wirkung auf die Lebensprocesse unterscheiden sich von dem Wein der Thee, der Kaffee und die Chocolade.

Wenn man in Erwägung zieht, dass in Europa und Amerika aber 80 Millionen Pfund Thee, und im Zollverein über 60 Millionen Pfund Kaffee jährlich verbraucht werden, dass in England und Amerika der Thee einen Bestandtheil der täglichen Lebensordnung des geringsten Arbeiters so wie des reichsten Grundadels ausmacht, dass in Deutschland das Volk auf dem Lande und in Städten um so hartnäckiger am Kaffeegenuss hängt, je mehr die Armuth die Fälle der Auswahl der Lebensmittel beschränkt, und dass der allerschmalste Taglohn immer noch in einen Bruchtheil für Kaffee und in einen andern für Brod und Kartoffeln gespalten wird, – im Angesichte solcher Thatsachen lässt sich schwerlich die Behauptung rechtfertigen: es sei der Genuss von Kaffee und Thee eine Sache der blossen Angewöhnung. (Knapp etc. Die Nahrungsmittel. Braunschweig 1847.)

Es ist wahr, es haben Tausende von Millionen Menschen gelebt, ohne Kaffee und Thee zu kennen, und die tägliche Erfahrung lehrt, dass sie unter Umständen ohne Nachtbeil für die blos thierischen Lebensfunctionen entbehrt werden können; aber es ist sicher falsch, hieraus zu schliessen, dass sie überhaupt, in Beziehung auf ihre Wirkungen, entbehrlich seien, und es ist sehr die Frage, ob, wenn wir keinen Thee

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_308.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)