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zu haschen? Dass die Körner da, wo die weissen Männer sie hinsäen, bleiben und wachsen; dass der Winter, der für uns die Zeit der mühsamen Jagden, ihnen die Zeit der Ruhe ist? Darum haben sie so viele Kinder und leben länger als wir. Ich sage also jedem, der mich hört, bevor die Bäume über unseren Hütten vor Alter werden abgestorben sein und die Ahornbäume des Thales aufhören uns Zucker zu geben wird das Geschlecht der kleinen Kornsäer das Geschlecht der Fleischesser vertilgt haben, wofern diese Jäger sich nicht entschliesen zu säen!“

In seinen beschwerlichen und mühevollen Jagden verbraucht der Indianer durch seine Glieder eine grosse Summe von Kraft, aber der hervorgebrachte Effect ist sehr gering und steht mit dem Aufwand in keinem Verhältniss.

Die Cultur ist die Oekonomie der Kraft: die Wissenschaft lehrt uns die einfachsten Mittel erkennen, um mit dem geringsten Aufwand von organischer Kraft die grössten Wirkungen zu erzielen und mit gegebenen Mitteln ein Maximum von Widerständen zu überwinden. Eine jede Kraftäusserung, eine jede Kraftverschwendung in der Agricultur, in der Industrie, so wie in der Wissenschaft, und namentlich im Staate, charakterisirt die Rohheit und den Mangel an wahrer Cultur. Darin liegt eben das ausserordentliche Uebergewicht an Kraft, welches unsere Zeit von allen früheren unterscheidet, dass die Entwickelung der Naturwissenschaften und der Mechanik, so wie die nähere Erforschung aller der Ursachen, wodurch mechanische Bewegungen und Ortsveränderungen hervorgebracht werden, zur genaueren Bekanntschaft mit den Gesetzen geführt haben, welche den Menschen befähigen, Naturgewalten, die sonst Angst und Entsetzen erweckten, zu seinen gehorsamen und willigen Dienern zu machen.

Einem Promotheus gleich hat der Mensch, mit Hülfe des göttlicher Funkens von Oben, welcher, genährt durch Religion und Gesittung, die Grundlage aller geistigen Vervollkommnung ist, den irdischen Elementen Leben eingeflösst.

Die Dampfmaschine empfängt Speise und Trank, und athmet gleich einem Thier; in ihrem Leib besteht eine Quelle von Wärme und eine Quelle von Kraft, wodurch innere und äussere Bewegungseffecte hervorgebracht werden, und das bestabgerichtete Pferd folgt nicht geduldiger dem Willen des Menschen, als die Locomotive unserer Eisenbahnen; sie geht schnell und langsam, sie steht und gehorcht dem leisesten Druck seines Fingers.

Die Wissenschaft, welche die Sclavendienste den Maschinen überträgt, hat zwischen den Naturkräften und der organischen Kraft ein richtigeres Verhältniss hergestellt[1].

  1. Die keusche Königin von Ithaka in Abwesenheit ihres Gemahls Ulysses hatte, erzählt uns Homer, zwölf Sclavinnen nöthig, welche Tag und Nacht beschäftigt waren, um das für den Unterhalt ihres Hauses nöthige Korn zu mahlen. Es war ein einfach gehaltenes Haus, und ich übertreibe, wenn ich annehme, dass Penolope dreihundert Personen täglich zu ernähren hatte. Also in diesen Verhältnissen, wo alle Arbeit im Schweisse der Menschen geschah, war eine Person nöthig, um das Korn für fünfundzwanzig, vielleicht nur für die Hälfte, zu mahlen. In unsern Tagen beschäftigt das Mahlen des Getreides unendlich weniger Hände. In der Mühle zu St. Maux bei Paris kann jeden Tag das Getreide für hunderttausend Soldaten von zwanzig Arbeitern gemahlen werden; dies ist eine Person für fünftausend Consumenten. Penelope konnte ohne Zweifel den zwölf Sclavinnen nur einen mageren Unterhalt geben, obwohl sie mit Arbeit überladen waren, eben weil der Ertrag der Arbeit dieser Unglücklichen im Verhältniss so gering war. M. Chevalier, Lettres sur l’organisation du travail. Paris, Capelle 1848. S. 29.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_313.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)