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An diesem Punkt ist die Landwirthschaft längst angekommen; da sich aber die Praxis, nämlich das Handwerk, niemals um Kenntniss der Wege und Mittel, verborgene Thatsachen zu entdecken, bekümmert hat, so lag es auf der Hand, dass sie ohne Hinzuziehung der Chemie, oder der Wissenschaft von den Wegen um verborgene Thatsachen zu entdecken, ihre Zwecke nicht erreichen könne, und die Chemie nahm sich ihrer bereitwillig an. Zunächst sagte die Chemie zur Praxis: dass die Begriffe, welche sie mit den Worten Luft, Boden, Dünger verbinde, unbestimmt, vieldeutig und zweifelhaft seien; sie zeigte, dass diese Worte und Ausdrücke einen unveränderlichen Inhalt hatten, und, in scharf begrenztem Sinne gebraucht, stets identisch dieselben bleiben, und nur in dieser Form zu Verstandesoperationen anwendbar seien; sie erhob die Begriffe der Praxis zu wissenschaftlichen Begriffen.

Der neugewonnene Begriff von Dünger wurde von der Landwirthschaft mit Enthusiasmus aufgenommen, und mit Eifer seine Ausbeutung ergriffen. Der Dünger, dies wusste man, war der wichtigste Factor zur Erhöhung der Erträge. Man hatte erfahren, dass das Wort „Dünger“ ein Sammelwort sei, und aus Theilen bestehe, und dass seine Wirksamkeit auf seinen Bestandtheilen beruhe.

Die Praxis fing jetzt an mit den Theilen zu operiren, ähnlich wie sie es mit dem Ganzen gemacht hatte; da aber die einzelnen Theile das Ganze nicht ersetzen, so entsprachen die Erfolge den Erwartungen nicht, man kam nicht weiter als zuvor. Der Enthusiasmus kühlte sich ab, und es trat ein Rückschlag ein.

„Es sei vollkommen thöricht“, sagt Pusey (Präsident der Landwirthschaftlichen Gesellschaft in England), „auf die zweifelhaften Lehren der Chemie irgend einen Werth zu legen; ausser einem Recept die Wirksamkeit der Knochen durch Auflösung in Schwefelsäure zu erhöhen, und dem Vorschlag, das Flachsröstwasser statt der Mistjauche zu gebrauchen, habe die Chemie der Landwirthschaft keinen Vortheil gebracht; man müsse sich an die Praxis halten, nur sie verdiene Vertrauen.“ Alle praktischen Männer in England, Deutschland und Frankreich waren mit diesem Ausspruch vollkommen einverstanden, keinem hatte die Chemie Vortheil gebracht, seine Erträge erhöht und damit sein Einkommen verbessert; wie von einem quälenden Alp befreit, erhob die ideenlose Experimentirkunst ihr Haupt, sie machte neue unerhörte Anstrengungen, um die Folgerungen zu widerlegen, welche sich an die wissenschaftlichen Begriffe knüpften, und nach zehnjährigen Versuchen zeigte es sich, dass sie, anstatt den Weg zu verlängern, sich in einem Kreis wie ein Pferd an einem Göpel herumgedreht hatte; man hatte mehr Pferde vorgespannt, da man aber die Stange nicht verlängerte, so war der Kreis der nämliche geblieben, nur etwas mehr ausgetreten als vorher.

Es trat jetzt eine neue Schwenkung in der Landwirthschaft ein; die Wissenschaft zeigte, dass dieselben Thatsachen, welche bestimmt waren ihre Lehre zu widerlegen, den vollen Charakter von Beweisen für ihre Richtigkeit besassen; an den Nichterfolgen, zu denen man gekommen, seien die Landwirthe selbst schuld, sie hätten nicht den richtigen Weg eingeschlagen, und Natur und Wesen der Wissenschaft verkannt; die Wissenschaft beschäftige sich einmal nicht mit der Aufsuchung

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_338.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)