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ihrer Fragen als eine Ehrensache betrachten, so können sie um so sicherer darauf rechnen, dass niemand davon Notiz nehmen wird.

In ihren grossen Versammlungen theilt der praktische Landwirth seine Erfahrungen mit, und spricht seine Ansichten aus; das Endergebniss ist ein gegenseitiges Zugestehen, und er geht mit dem Gefühl der Befriedigung heim, dass er die Anderen überzeugt habe, er sei ein Mann des Fortschritts, und habe seinen Theil daran. Von Grundsätzen ist keine Rede; man will wirksamen Dünger und Versuche haben; mit Grundwahrheiten, so meint man, mache man den magern Acker nicht fett.

Vor einigen Jahren äusserte ein Mann von der Feder in einer solchen Versammlung einen bescheidenen Zweifel über die Dauerhaftigkeit des in England fabricirten Stickstoffleims, allein einstimmig beschloss man die Tagesordnung, da die Erfahrung längst über dessen Güte entschieden habe.

Eine der schlimmsten Seiten des praktischen Mannes ist seine Empfindlichkeit gegen Widerspruch. Aus dem gänzlichen Mangel an Gründen erklärt sich die Leidenschaft und Zärtlichkeit, die sie für ihre irrigen Ansichten hegen; sie macht sie blind für ihr eignes Interesse, und taub für jede Belehrung. Wer ihren Vorurtheilen nicht schmeichelt, wer ihnen offen sagt, dass noch vieles zu lernen sei, und dass das Bewusstsein und das Geständniss unserer Unwissenheit, die Einsicht in unsere Fehler, der Anfang unserer Besserung sei, den betrachten sie als ihren Feind; und so muss ich, der ich glaube ihr offenster und wahrster Freund zu sein, mich schon entschliessen das ganze Gewicht ihrer Verachtung, welche der Stolz auf ihre Erfahrungen ihnen einflösst, mit Resignation zu ertragen, wenn ich die Behauptung zu beweisen suche, dass das seit einem halben Jahrhundert herrschende System des Feldbaues ein Raubsystem gewesen ist, welches, wenn es beibehalten wird, in einer berechenbaren Zeit den Ruin der Felder, die Verarmung ihrer Kinder und ihrer Nachkommen unabwendbar nach sich ziehen wird.



Achtunddreissigster Brief.


Ehe ich unternehme den Beweis zu führen, dass unser gegenwärtiges System des Feldbaues ein Raubsystem ist, will ich im voraus bemerken, dass ich nicht meine, ein jeder Landwirth handle in Beziehung auf die ihm vortheilhafteste Bestellung seiner Felder gegen die Gesetze der Logik und Vernunft; ich bin ganz im Gegentheil der Ansicht, dass unsere praktischen Landwirthe in der Erreichung dieses Zweckes sehr vernünftig und sehr logisch handeln; sie kennen im allgemeinen die Mittel, um unfruchtbare Felder fruchtbar zu machen, und ihren fruchtbaren Feldern hohe Erträge abzugewinnen, und wenden diese Mittel mit Geschick und Ueberlegung an; sie sind seit undenklicher Zeit bekannt und erprobt.

Ein Feld, welches einen hohen Kornertrag geliefert hat, empfängt durch die gehörige mechanische Bearbeitung und Düngung die Fähigkeit denselben Kornertrag zum zweiten Mal zu liefern, beide bedingen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_346.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)