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lässt uns glauben, dass alle Bodenarten nach ihrer Erschöpfung durch Ernten Quarz und Thon als Residuum hinterlassen, was er im Ernst nicht wird behaupten wollen, indem sonst ein grosser Theil von Württemberg ohne allen Boden wäre.

Um zu einem Verständniss zu kommen, ist es nöthig, dass man sich versteht; wenn aber der Eine bald dies, bald jenes unter einem Wort verstanden haben will, so versteht ihn eben der Andere nicht, denn es gehören zum Verstehen ganz bestimmte Begriffe. Ein wissenschaftlicher Begriff ist nichts anderes als ein gewöhnlicher Begriff, nur abgegrenzt und von unveränderlichem Inhalt.

Wenn ein Landwirth von seinem Vieh spricht, das ihm Milch und gleichzeitig Dünger giebt, so weiss sein Nachbar Landwirth, dass damit „Kühe“ bezeichnet sind. Die Milch- und Misterzeugung ist aber kein wissenschaftlicher Begriff für „Kühe“, denn sie schliesst nicht aus, dass ein Dritter meinen könnte, alle Thiere, welche Milch und Dünger erzeugen, seien Kühe, oder dass eine Kuh, die keine Milch, sondern blos Dünger liefere, keine Kuh sei.

Dasselbe gilt nun in der Chemie vom Begriff des Bodens, oder von dem was man Erfahrung nennt. Das Wort Erfahrung in nicht wissenschaftlichem Sinn erinnert immer an den Mann, dem das Niesen kam, wenn es donnerte, und der beim schönsten Tag mit seinem Regenschirm spazieren ging, wenn er des Morgens geniest hatte, weil er, auf seine Erfahrung gestützt, sicher zu sein glaubte, dass es ein Gewitter geben müsse.

In der Beweisführung unseres Lehrers der Landwirthschaft ist thatsächlich „kein Boden“, d. h. nichts von dem was ein Landwirth aus Erfahrung als einen Boden kennt, aber Umsicht und einen weiten Blick kann man ihr nicht absprechen.

Die Volumabnahme des Bodens durch die Entziehung der Aschenbestandtheile ist evident; wenn meine Rechnung mich nicht täuscht, so beträgt sie bei Dreifelderwirthschaft, wenn man einen Spinnenfaden viermal spaltet, jährlich etwa den zehnten Theil von der Viertelsdicke eines Spinnenfadens; eben so scharf und verständlich ist die Art und Weise wie die Natur den Pflanzen hilft, um, wenn die Ackerkrume erschöpft ist, zu der Nahrung in dem Untergrund zu gelangen; der Boden verhält sich hiernach zu den Pflanzen wie etwa ein Gemenge von 9/10 Quarz und 1/10 Erbsen zu einem Volk Hühner. Wenn die Vögel die Erbsen aus dem Boden hinweggepickt haben, so kommt der Hahn, als Natur, hinterdrein und kratzt und scharrt den Ballast hinweg; wohin die vier Millionen Kilogramme Ballast kommen, welche jährlich von 1829 Hectaren Feld in dieser Weise hinweggeschwemmt werden, dies wird sein Scharfsinn auch noch erklären; eben so dass für die Nachbarfelder, von denen der Wind und Regen unsern Feldern mineralische Bestandtheile zugeführt hat, dieser Verlust ganz ohne Belang ist.

Der erfahrene Lehrer der praktischen Landwirthschaft – um einen Schluss der exacten Naturwissenschaft zu widerlegen, den er für falsch hält – erfindet einen in der Natur nicht bestehenden, schlechthin unmöglichen oder mindestens unbekannten Fall, und das Erschlossene, was er sorgfältig vorher hineingelegt hat, wendet er an auf wirkliche Fälle.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_411.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)