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Man muss übrigens nicht glauben, dass die Ansicht der Verbreiter und Vertheidiger der sogenannten Stickstofftheorie, wonach der Stickstoff oder das Ammoniak der Hauptfactor im Dünger und der Angelpunkt der landwirthschaftlichen Production ist, rein erfunden oder aus der Luft gegriffen sei; diese Ansicht ist vielmehr aus einem verzeihlichen Irrthum hervorgegangen, in den man früher in der Wissenschaft nur allzu oft verfiel, und dem man heute noch darum begegnet.

Es ist ganz richtig, dass man den landwirthschaftlichen Werth der Guanosorten und aller Excremente von Thieren für die Samenproduction sehr genau messen und nach dem gewonnenen Maassstab beurtheilen kann durch ihren Stickstoff- oder Ammoniakgehalt, und es liegt der begangene Fehler wesentlich darin, dass man, auf diese an sich wahren Thatsachen gestützt, die Wirkung dieser Dünger in den Stickstoff hineinlegte, der in dieser Wirkung eine Rolle, aber in den meisten Fällen eine sehr untergeordnete spielt. Es ist dies derselbe Irrthum, welchen Lavoisier und Davy begingen, als der eine den Sauerstoff, der andere den Wasserstoff als das säureerzeugende Princip bezeichnete.

Um dies zu verstehen, muss man sich an die Zusammensetzung der Samen, des Fleisches und derjenigen Pflanzenbestandtheile erinnern, welche zur Bildung des Blutes dienen und welche eine dem Fleisch ähnliche Zusammensetzung besitzen. In allen diesen Stoffen sind die verbrennlichen und unverbrennlichen Bestandtheile des Blutes enthalten. Ein Mensch, der von Brod lebt, nimmt in seinen Leib die Aschenbestandtheile der Samen auf, aus denen das Mehl des Brodes bereitet ist; seine Excremente enthalten die Aschenbestandtheile dieser nämlichen Samen. Aus dem Brod entsteht das Fleisch, und die Excremente der Menschen oder Thiere, die von Fleisch leben, sind ihren Elementen nach identisch mit denen der Menschen oder Thiere, die von Brod oder Samen leben. Brod, Fleisch und Blut enthalten einen stickstoffreichen Stoff, der, in der Nahrung genossen, zur Unterhaltung der Lebensfunctionen oder des Stoffwechsels dient; der Stickstoff dieses Bestandtheils tritt bei dem erwachsenen Thiere täglich in eben der Menge im Harn und in den Fäces wieder aus, in welcher er in der Nahrung genossen wurde.

Die Excremente der Menschen und Thiere enthalten demnach nicht nur die Aschenbestandtheile der Samen, des Fleisches, der Bestandtheile der Wurzeln, Knollen, Kräuter etc., welche Blut und Fleisch im Körper der Thiere gebildet haben, sondern sie enthalten auch den grössten Theil des Stickstoffs dieser Samen, des Fleisches und der fleisch- und blutbildenden Bestandtheile.

Es ist nun durch die genauesten chemischen Analysen (s. S. 1 bis 49, Ergebnisse landwirthschaftlicher und agricultur-chemischer Versuche des Generalcomité’s des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern, München, Literarisch-artistische Anstalt, 1857), wie bereits erwähnt, festgestellt worden, dass zwischen der Stickstoffmenge in den Samen und ihrem Gehalt an Phosphorsäure oder phosphorsauren Salzen (zwischen dem Stickstoff und den Aschenbestandtheilen der Samen) ein festes unveränderliches Verhältniss besteht, so zwar, dass man, wenn man den Stickstoffgehalt kennt, aus diesem den Gehalt an Phosphorsäure oder phosphorsauren Salzen berechnen kann.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_435.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)