Seite:De DZfG 1889 02 022.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

– als Aufklärung bezeichnet wird[1]. Von diesem Standpunkt aus überblickt er „die ganze Kette der Bildung unseres Geschlechts in der Geschichte“[2] und findet als das grosse Hauptgesetz, welches in allen Erscheinungen zum Ausdruck gelangt: „dass allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann, theils nach Lage und Bedürfniss des Ortes, theils nach Umständen und Gelegenheiten der Zeit, theils nach dem angeborenen und sich erzeugenden Charakter der Völker“[3].

Uns heute erscheint dieser Gedanke fast trivial, eben weil es uns so vollkommen in Fleisch und Blut übergegangen, Keim und Trieb der modernen Geistesbildung geworden ist. Aber in jenen Tagen bedeutete er eine Revolution. Die einseitige Richtung der rationalistischen Geschichtsauffassung, welche – mit Herder zu reden – nach der einen Form ihrer Zeit alle Jahrhunderte modelte[4] und nur das begriff, was ihr geistig conform war, hat an diesem Worte Schiffbruch gelitten. Der Gedanke, dass die Epochen aus sich selber zu verstehen seien, dass an die Stelle des Beurtheilens: der absoluten Bewunderung wie des ungerechten Tadelns und Meisterns das Begreifen und genetische Verstehen treten müsse, war die einfache Consequenz dieser Anschauung, welche in den geschichtlichen Ereignissen und Wandlungen nicht ein willkürliches Thun und Machen, sondern ein naturwüchsiges, organisches Werden erblickte.

Wie aber alles um uns her geworden ist, nicht bloss Staat und Kirche, unter deren Ordnungen wir leben, sondern auch Recht und Sitte und die wirthschaftlichen Einrichtungen der Menschen, die Systeme der Philosophie so gut wie die Gebilde der Kunst, die Wissenschaft in all ihren Zweigen, ja zuletzt das Volk selbst, dessen Glieder wir sind, und die Sprache, die wir reden, so hat auch alles seine Geschichte, eine Geschichte nicht in dem Sinne blosser Anhäufung chronologischer Daten und Materialien, sondern Geschichte als Entwicklungsgang, als das Product organischer Kräfte und der Einwirkung von Zeit, Ort und äusseren Umständen.

  1. Ebd.
  2. Ebd.
  3. XII, 6.
  4. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (Riga 1774, Herder’s Werke, Hempel XXI, 162).
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_022.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)