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war allgemeiner Zusammenbruch morscher Ueberlieferungen, unerhört in der Geschichte des menschlichen Geistes. Aber die Skepsis zum kritischen Principe erhoben, erwies sich als unfruchtbar und unfähig zu positiver Leistung. Indem sie vor Allem das Wunderbare aus der Geschichte wie aus der heiligen Schrift zu entfernen bemüht war, wusste sie doch nichts an seine Stelle zu setzen, als jene vernunftgemässen Umdeutungen, welche der rationalistischen Interpretation und Kritik einen Namen für immer gegeben haben. „Man kann“, sagt Niebuhr mit Bezug auf das Wunder in der römischen Sage, „diesem seine Eigenthümlichkeit rauben und so lange weglassen und ändern, bis es zu einem gewöhnlichen möglichen Vorfall wird, aber man muss auch fest überzeugt sein, dass das übrigbleibende Caput mortuum nichts weniger als ein historisches Factum sein wird“[1]. – Und überall da, wo es sich einfach darum handelte, verschiedene Berichte über einen gewöhnlichen historischen Vorgang abzuschätzen, kam man – einzelne wenige Ausnahmen abgerechnet – im Grunde nicht über den Standpunkt vergangener Jahrhunderte hinaus und erschöpfte Fleiss und Scharfsinn in künstlichen Harmonisirungsversuchen, welche die widersprechenden Ueberlieferungen, so gut es eben gehen wollte, auf ein Niveau brachten, – wenn man es nicht vorzog, in skeptischer Laune mit der falschen auch die echte Tradition über Bord zu werfen. Dies Ergebniss war nothwendig, da die einfache Kritik der Thatsachen nie zu einem Werthmassstab für die Beurtheilung der Ueberlieferung verhelfen konnte.

Hier eben war es, wo der genetische Gedanke einsetzte. Indem er von dem Begriff der Entwicklung ausging und diesen in alle geschichtlichen Bildungen hineintrug, konnte es nicht ausbleiben, dass er auch in der geschichtlichen Tradition den Spuren organischen Werdens nachging und an die Stelle blosser Kritik der Thatsachen eine Kritik der Ueberlieferung setzte. Es war ein ungemein bedeutungsvoller Schritt, der damit gethan ward, es war die Geburtsstunde moderner Geschichtsforschung. Die gesammte Tradition veränderte auf einmal ihr Antlitz, die todte Masse gewann Leben: aus der Umhüllung einer sagenhaft

  1. Röm. Gesch. I (1. Aufl.), 148.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_028.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)