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und ihrem Interesse dienstbar zu machen, fällt nur zu häufig der Sieg der Gesellschaft zu. Je seltener die Staatsidee selbständige Organe besitzt, die über die gesellschaftlichen Interessen vollkommen erhaben sind, um so leichter vermag die Gesellschaftsordnung der Verfassung und Verwaltung des Staates ihr Gepräge zu geben, die Staatsgewalt auf Kosten ihrer höheren Bestimmung zu beeinflussen. So ist denn – abgesehen von der reinen Despotie – die Staatsordnung von jeher mehr oder minder Ausdruck der bestehenden Gesellschaftsordnung, ist die politische Entwicklung der Völker in hohem Masse bedingt gewesen durch die Vertheilung der Güter und der Gesellschaftsclassen. Es ist daher auch ein Haupt- und Grundproblem der politischen Geschichtschreibung, nachzuweisen, wie sich der Staat zu den Elementen der Gesellschaft, wie diese sich zu ihm verhalten.

Wenn aber so die Erforschung des Organismus der Gesellschaft und ihrer Macht recht eigentlich zum Arbeitsgebiete des politischen[WS 1] Geschichtschreibers gehört, so eröffnet sich für ihn zugleich eine weitere Aufgabe, der er sich nicht ungestraft entziehen kann. Die Gesellschaft erhält ihre Ordnung hauptsächlich durch das Verhältniss zwischen dem Eigenthum und der erwerbenden Arbeit; und damit gewinnt auch dieses Moment einen weitgreifenden Einfluss auf die Gestaltung des politischen Lebens selbst, wird zu einem wesentlichen Objekt der geschichtlichen Erforschung des Staates. Wenn unsere Zeit, wie Schäfer selbst mit Recht bemerkt, die Voraussetzungen staatlichen Lebens klarer, tiefer und vielseitiger erfasst hat, als es je zuvor geschehen, so ist das wahrlich der wirthschaftsgeschichtlichen Forschung im hohen Grade mit zu verdanken! Hat sich etwa unserem Niebuhr das tiefere Verständniss des Entwicklungsganges der Römischen Republik durch eine einseitige Betrachtung der politischen und militärischen Machtentfaltung Roms erschlossen, und nicht vielmehr durch seine Studien über das römische Eigenthumsrecht und die Ackergesetze?

Was wäre heute überhaupt die Geschichte der antiken Völker, wenn ihre Erforschung und Darstellung durch die dürftige Formel bestimmt worden wäre, mit der Schäfer das Arbeitsfeld der Historie umgrenzen will, wenn sie nicht seit den Tagen Niebuhr’s und Böckh’s auch von den Meistern der politischen Geschichte

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: potitischen
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_003.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)