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der besitzlosen freien Arbeit stetig zunahm, da drängte sich in den Städten eine Bevölkerung zusammen, die sich zum Theil sehr entschieden als das Opfer eines socialen Unrechtes fühlte und daher aus dem demokratischen Gleichheitsprincip noch ganz andere Consequenzen zog als das freiheitlich gesinnte besitzende Bürgerthum. Ein elendes dem Pauperismus rettungslos verfallenes Proletariat, dem, wie Isokrates, der „Stimmführer der Gebildeten“, treffend bemerkt, das Gemeinwesen gleichgültig war, wenn es nur Brot hatte[1], dem nichts ersehnter war, als Beraubung der Vermögenden[2].

Es leuchtet ein, wie sehr diese socialen Gegensätze auch auf der Agora sich fühlbar machen mussten, als in Folge der angedeuteten Concentrirung der besitzlosen Elemente der Gesellschaft in der Volksversammlung die Zahl derer immer grösser wurde, denen die wirthschaftlichen und socialen Bedingungen eines unabhängigen Bürgerthums vollkommen fehlten. Nur wer solche fundamentale Thatsachen des Gesellschaftslebens so gänzlich ignorirt, wie es Grote thut, kann sich dem Wahne hingeben, dass „die Volksversammlung immer dasselbe Interesse hatte, wie die Gesammtheit“.

Grote’s Darstellung erweckt überall den Eindruck, als ob der Grundcharakter der entwickelten Hellenischen Demokratie immer der gleiche geblieben wäre, und alle Zeit ein solch einheitliches Gepräge gezeigt hätte, wie etwa die Englische Demokratie vor der Reformbill, als die besitzende Bourgeoisie mit ihrem Interesse an individueller Freiheit und die besitzlose Masse mit ihrer Forderung politischer Gleichheit noch einig Hand in Hand gingen. Und doch hätten gerade die Erfahrungen der Jahre, in welche die Entstehung seines grossen Werkes fällt, den Geschichtschreiber belehren können, dass die Freiheitsliebe der wirthschaftlich Stärkeren, der Besitzenden und Gebildeten und der Gleichheitsdurst der niederen Massen niemals auf die Dauer miteinander Hand in Hand gehen können, weil die Freiheit stets die Tendenz in sich trägt, zur Herrschaft der Starken über die Schwachen, die Gleichheit aber die, zur Freiheitsbeschränkung der Stärkeren zu entarten. Wenn nicht auch die Hellenische Demokratie diesen inneren Widerspruch enthalten hätte, wie würde

  1. Areopag. § 83.
  2. Archidamos c. 28.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_010.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)