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die ohne Ahnung von dem furchtbaren Ernste der socialökonomischen Zustände jener Zeit und dem typischen Charakter der in diesen Zuständen wurzelnden Ausartungen des Parteikampfes alles Gewicht auf ein Moment legt, welches gegenüber der entfesselten Gewalt der elementaren Kräfte der Gesellschaft doch immer nur von höchst problematischer Bedeutung sein kann! Soll uns die Geschichte der Hellenischen Verfallszeit weiter nichts lehren, als dass „die Ursachen all dieser düsteren Erscheinungen tief im menschlichen Geiste liegen und wahrscheinlich von Zeit zu Zeit in verschiedener Gestalt wiederkehren werden, wenn nicht die Grundlagen der constitutionellen Moralität sicherer und fester gelegt werden sollten, als es bisher geschehen“[1]?

Grote selbst hat sich in seinen letzten Lebensjahren dem Gefühle nicht ganz entziehen können, dass eine derartige doctrinäre Beurtheilung politischer Probleme dem wirklichen Leben nicht gerecht zu werden vermag. Eine Thatsache von höchstem Interesse, auf die in dem – noch immer ungeschlichteten – Streit über die Berechtigung der Grote’schen Darstellung der Athenischen Demokratie merkwürdigerweise noch von keiner Seite hingewiesen worden ist[2], obwohl sie der Grote’schen Schule den Boden unter den Füssen wegzieht.

Die vortreffliche Darstellung seines Lebens von H. Grote macht uns die überraschende Mittheilung, dass durch die Anschauungen, welche im Laufe der Jahre Zeit, Erfahrung und Nachdenken in dem Geschichtschreiber gereift hatten, das politische Glaubensbekenntniss seiner früheren Periode (d. h. der Abfassungszeit der Griechischen Geschichte) vielfach umgestaltet und eine Reihe früherer Illusionen zerstört worden sei[3]. So erklärte

  1. Grote a. a. O. S. 59.
  2. Freeman z. B. in seinen soeben in 3. Aufl. erschienenen „Historical essays“ ignorirt die Thatsache vollständig, obwohl sie bei einer Erörterung der geschichtlichen Auffassung Grote’s, wie sie Freeman in dem Aufsatz über die Athenische Demokratie II S. 122 ff. gibt, nothwendig berücksichtigt werden musste. Freilich steht Freeman selbst noch immer so sehr unter dem Einfluss einer doctrinären Beurtheilung der Athenischen Demokratie, dass er sogar an seiner alten Behauptung festhält, wonach die Athenischen Bürger durchschnittlich eine höhere politische Intelligenz besessen hätten, als die Mitglieder des englischen Parlaments. (S. 162.)
  3. The personal life of G. Grote p. 313.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_014.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)