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meisterhaften Einleitung in das Studium der Philosophie ausführte, in der Geschichte derselben nicht in Abrede gestellt[1]. Nur fügt er hinzu, dass in ihr noch mehr wie in der Weltgeschichte „die Individualität derjenigen, die zur Wirksamkeit kamen, als ein zufälliges Element stark eingreift und den Gang der Philosophie wie den der Weltbegebenheiten stark modificirt“, und weist auf die Stillstände und Rückschritte in beiden hin. Diese Worte werden durch Schopenhauer’s Entwicklungsgang vollauf bestätigt. Bei keinem seiner Zeitgenossen greift das individuelle Moment mit gleicher Stärke ein.

Das Jahr 1788 kann man einen Markstein in der geistigen Entwicklung Deutschlands nennen. Damals verkündete Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ der Nation seine Lehre vom kategorischen Imperativ, damals kehrte Goethe aus Italien nach Weimar zurück und leitete jene schönheitstrunkene Zeit ein, in der Schiller die drakonische Härte des Kantischen Pflichtgebots durch Neigung zu mildern suchte[2]. Beide Elemente, das ethische wie das ästhetische, finden sich nun in seltsamer Verzerrung bei dem Philosophen, der in eben jenem Jahre 1788 dieses irdische Jammerthal betrat. Was Kant weit von sich wies, die „Fleischestödtung des Anachoreten“[3], wird bei ihm zum Kernpunkt seiner Tugendlehre, wie ihm andererseits „die schwere Verbindung“[4] von Geschmack und Genie in Folge seines masslosen Geniecultus nie glücken wollte.

Schon als Knabe kommt Schopenhauer durch weite Reisen in nähere Berührung mit dem Welttreiben, als es sonst in diesem Alter zu geschehen pflegt. Holland, England, Belgien, Frankreich, die Schweiz, Oesterreich und Deutschland werden durchstreift, aber die Vergangenheit all’ dieser Länder und ihrer Völker bleibt ihm stumm[5]. Um so lebendiger treten dem heranwachsenden

  1. Als Bruchstück der einmaligen Berliner Vorlesung (S. S. 1820) veröffentlicht Memorab. 743.
  2. Schiller, Anmuth u. Würde. Bd. 10, 100 der hist. krit. Ausgabe.
  3. Anthropologie, Werke (Schubert-Rosenkranz) VII, 2, 209.
  4. Vgl. das so betitelte Schiller’sche Epigramm.
  5. Am 4. Aug. 1803 schreibt seine Mutter an den in einer Pension zu Wimbledon bei London Befindlichen: „Du bist nun fünfzehn Jahre alt, du hast schon die besten Deutschen, Französischen und z. Th. auch Englischen Dichter gelesen und studirt, und doch, ausser den Schulstunden,
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1890, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_050.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)