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Genius gehören. Da musste dem sich genialisch dünkenden jungen Manne die Philosophie nothwendig zur Kunst werden. So nur konnte es kommen, dass der Begeistertste aller Kantianer sich in einem Netze von Widersprüchen gefangen hat.

Zunächst bekennt sich ja seine Lehre ganz und gar zu den Grundsätzen des Kriticismus. Sie fragt daher nicht, wozu die Welt da sei, sie fragt lediglich, was die Welt ist, mit einem Worte: seine Philosophie ist „eine vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstracten Begriffen“[1]. Damit aber hat sich der Philosoph nach Haym’s treffender Bemerkung[2] die Möglichkeit genommen, an irgend einer Stelle den Kreis zu durchbrechen, den er mit dem Satze „die Welt ist Vorstellung“ um alles Sein gezogen hat. Um so mehr musste er sich also auf die Erscheinungswelt hingewiesen sehen, d. h. neben dem Studium der Naturwissenschaften, dem er in der That fleissig obgelegen hat, vor allem auf das der Geschichte. Sein Pessimismus hat jedoch, statt durch die Geschichte eine Correctur zu erfahren, frühzeitig die Anschauung von dem Wesen derselben verfälscht. So wie er Kant’s Lehre weiter entwickelt hat, gehört er durchaus, so sehr er sich auch dagegen verwahren mochte, in die idealistische mit den Namen Fichte’s, Schelling’s und Hegel’s bezeichnete Reihe als letzter bedeutender Vertreter derselben. Und wenn er in bewusstem Gegensatze zu den Letztgenannten Philosophie und Geschichte einander aufs schroffste gegenüberstellte[3], so handelte er in dem richtigen Instincte, dass der nachkantische Idealismus durch die erstarkenden Einzeldisciplinen seinen Todesstoss empfangen werde. Die Bewunderung die man dem tiefen, dem vielseitigen Denker, vor allem dem wundervollen, classischen Prosaisten nie versagen wird, schwindet jedoch dahin, sobald wir eine Prüfung der Solidität seines Lehrgebäudes unternehmen. Denn es ist nicht anders: die Paradoxie, das süsse Vorrecht des Dichters, beherrscht durchaus sein wissenschaftliches Bewusstsein und hat sein Streben mit dem Fluche des Dilettantismus belastet.



  1. W. a. W. I, 99.
  2. Preuss. Jbb. a. a. O. S. 56.
  3. Aus Sch.’s Nachlass S. 306. Wegen des Gegensatzes „zwischen Philosophie und Geschichte haben Philosophen und Historiker nie einander hochgeschätzt“. Uebrigens weist er selbst doch auf Leibniz und, was ihm wohl unangenehmer war, auch auf Hume als Ausnahmen jener Regel hin.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1890, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_064.jpg&oldid=- (Version vom 12.11.2022)