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solle, und historische Urtheile schwankten herüber und hinüber[1], so durfte die von Lorenz angeregte Frage um so weniger unerörtert bleiben, als von ihrer richtigen Beantwortung nicht nur eine volle Würdigung der Verdienste Humboldt’s, sondern auch das Verständniss eines Wendepunktes in der geistigen Entwicklung unseres Jahrhunderts abhängt. Es schien mir daher geboten, auch an meinem Theile den Faden da, wo ich ihn in der genannten Schrift fallen liess, wieder aufzunehmen.

Nach Ranke’s eigener wiederholter Versicherung hat unter allen neueren Philosophen Fichte, der ja einst gleich ihm ein Zögling der Schulpforte gewesen war, auf ihn den grössten Eindruck gemacht, am meisten in seinen populären Schriften, den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters“, der „Anweisung zum seligen Leben“ und den mit „unbegrenzter Bewunderung“ aufgenommenen „Reden an die Deutsche Nation“[2]. Auch die „Kritik der reinen Vernunft“ hat der Leipziger Student bei der Lampe mit Eifer vorgenommen, und in seiner schonenden, zurückhaltenden Beurtheilung menschlichen Thun und Treibens, die ihm so häufig als sittliche Gleichgültigkeit ausgelegt worden ist, hat den Historiker auch später wohl nichts so bestärkt, als der in Kant’s Freiheitslehre geführte Nachweis, dass uns die eigentliche Moralität menschlicher Handlungen gänzlich verborgen bleibe. Bei Fichte aber ergriff ihn die Verbindung philosophischen und religiösen Tiefsinns. Seinem in religiöse Zweifel verstrickten Bruder Heinrich wusste er nichts Besseres zu empfehlen, als eben die Anweisung zum seligen Leben[3]. „Was du liebst, das lebst du“, hatte dort Fichte gesagt und die wahre Seligkeit in die zum Wissen führende Sehnsucht nach dem Ewigen gesetzt. Wesentlich diese Sehnsucht war es nun, welche den jungen Gymnasiallehrer in Frankfurt a. O. zum Studium der Geschichte hinzog. Sage doch Fichte – schreibt er an seinen Bruder Heinrich[4] – „dass dies Lieben eines vergangenen Lebens, nämlich seiner Idee, dies innerliche Treiben und Kennenlernen

  1. Ranke, Zur eigenen Lebensgeschichte; herausgegeben von A. Dove. 1890. S. 574.
  2. Dictat von November 1885. Lebensgesch. S. 59.
  3. Friedrich Heinrich Ranke, Jugenderinnerungen. Stuttg. 1877. S. 90.
  4. Frankfurt a. O. Ende März 1820. Lebensgesch. S. 89 f.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_238.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2023)