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in Humboldt’s Abhandlung vermisst hat[1], der Frage, „wie sich die Welt der Ideen zu der bewussten Thatkraft des wollenden Menschen eigentlich verhalte“. Auch in Ranke’s Schriften erhalten wir hierauf keine rechte Antwort. Es ist doch nicht bloss die Betrachtungsweise des Alters, wenn der Verfasser der Weltgeschichte uns fast vergessen lässt, dass der Kampf der Ideen durch die handelnden Menschen als die Träger derselben durchgefochten wird, wenn dem „althistorischen Interesse“ des ergrauten Staatsmannes, wie er an Gentz schreibt[2], „alles Menschliche unglaublich zusammenschrumpft, so dass er mehr den Strom sieht, der die Dinge fortreisst, als die Dinge selbst“. Denn beide folgen in ihrer scheinbaren Nichtberücksichtigung der individuellen Factoren den Anregungen von Kant’s Antagonismuslehre, welche naturgemäss bei beiden immer mehr hervortreten musste, je mehr auf der anderen Seite Kant’s Freiheitslehre sie zur grössten Vorsicht in der Beurtheilung menschlicher Thaten ermahnte. Nicht Schlosser, welcher die Weltgeschichte zum Weltgericht machen wollte, sondern Humboldt und Ranke sind in diesem Punkte ausgesprochene Kantianer, und das Eigenthümliche ihres Verhältnisses zu dem Königsberger Philosophen besteht eben darin, dass sie durch die Lehre, auf welche sich ihre hochentwickelte Achtung vor allem Individuellen wesentlich stützt, schliesslich der Hegel’schen Auffassung doch wieder so nahe kamen, dass ein ungeübtes Auge leicht den trotz alledem obwaltenden grossen Unterschied übersehen könnte.

Und so wären wir auf einigen Umwegen, die sich wegen der Auseinandersetzung mit Lorenz nicht vermeiden liessen, zu dem Resultate gelangt, dass sich Humboldt’s und Ranke’s Ideenlehre in allen wesentlichen Punkten deckt, und dass der Historiker demnach keine Ursache hatte, die Lectüre der Abhandlung „über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ an irgend einer Stelle abzubrechen. Nur das bleibt fraglich, wann er sie gelesen hat; vermuthlich doch, als sie 1841 im ersten Bande der Werke Humboldt’s erschien, also zu einer Zeit, als Ranke seine Ideenlehre längst in den Schriften, welche seinen Weltruf begründeten,

  1. Deutsche Geschichte 3. 696.
  2. Zeitz 13. Juli 1827. Schriften von F. v. Gentz. Ein Denkmal, von G. Schlesier. 5, 294.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_254.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2023)