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überwanden die Ottonischen Herrscher diese Grundlage und begannen sie durch die weitere des Reiches zu ersetzen.

Innerhalb der Stämme aber lebte sogar die uralte Anschauung von dem geschlechtlichen Zusammenhang aller Stammesgenossen und von der natürlichen Begründung alles Rechtes wenigstens im Privatrecht noch fort: noch galt der Grundsatz persönlichen Rechtes, wonach Jedermann das besondere Recht des Stammes genoss, in dem er geboren. Dagegen waren die Erinnerungen an den alten Völkerschaftsstaat der Germanischen Urzeit verblasst, ja völlig abgestorben; die Karlingische Verwaltungsthätigkeit und die Zunahme der Bevölkerung hatten in gleicher Weise vielfach zu Theilungen der Gaue, der alten Völkerschaftsgebiete, und damit zur Ertötung ihres Sonderlebens geführt.

Um so gewaltiger wuchs die Idee einer Gesammtverfassung jedes Stammes; gegen Schluss der Karlingenzeit hatte sie in allen Stämmen, mit Ausnahme der Thüringer und Friesen, zur erneuten Begründung von Herzogthümern von fast durchweg einheimischen Verfassungsmotiven aus geführt: als politische Gewalten begrüssten die Stämme die Wende des 9. und 10. Jahrhunderts.

Politische Gewalten blieben die Stämme auch noch im ganzen Verlauf des 10. Jahrhunderts und weit darüber hinaus, mochten auch die Ottonen bereits es mit Erfolg versuchen, die anfangs noch autonomen Herzöge zu sozusagen dynastischen Beamten hinabzudrücken. Denn unter den Herzögen blühten trotzdem die Landtage der Stämme noch lange in der vollen Selbständigkeit altgermanischer Zeiten: wagt doch der Sächsische Landtag sogar seinem königlichen Herzog Otto noch zu widersprechen[1]. Auch die gesetzgeberische Freiheit ging den Stämmen noch nicht verloren; wir besitzen ein Fränkisches Sendrecht der Wenden an Main und Rednitz wohl vom J. 939[2] und die Bairischen Gesetze von Ranshofen aus dem Ende des 10. Jahrhunderts. Erst im Laufe des 11. Jahrhunderts geriethen die alten Volksrechte der Stämme in Vergessenheit –, aber auch dann blieben die Stämme noch Träger neuer Bildungen des Gewohnheitsrechts so lange, dass sich sogar die Stadtrechte des 13. und 14. Jahrhunderts, obwohl gänzlich

  1. Widukind 3, 70.
  2. Dove, Z. für Kirchenrecht 4, 157 f. Zur Datierung s. Schröder, Dt. Rechtsgesch. S. 632 Anm. 2.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_003.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2023)