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die ursprünglich rein subjectiv empfundene Anschauungen wiedergaben, objective Bedeutung beilegte. Fast alle wichtigeren Lateinischen Bezeichnungen sittlicher Begriffe haben diese Wandlung im frühen Mittelalter durchgemacht: so begann religio nicht die religiöse Empfindung oder den Glauben zu bedeuten, sondern den geistlichen Stand, fidelitas nicht getreue Gesinnung, sondern ein Gefolge von Getreuen, honor nicht innere Ehre, sondern ein Lehen, an das sich eine gewisse äussere Würdigung knüpfte, u. dgl. mehr[1]. Noch näher lag es, dass sittliches Verhalten überhaupt nicht so sehr in gewissen inneren Stimmungen oder Dispositionen, wie in gewissen äusseren typischen Handlungen gefunden und darnach bemessen wurde. Kein König galt im früheren Mittelalter als barmherzig, der nicht in Ausübung barmherziger Werke Thränen vergoss, kein Kleriker für bescheiden, der sich nicht gegen Beförderungen mit reichlichem Thränenerguss, ja durch Flucht und Verstecken wehrte. Tausendmal berichten die Quellen von diesen und verwandten Zügen; sie gehörten durchaus zur geistigen Typik der Zeit; wahre Sittlichkeit war dem Menschen des 10. Jahrhunderts ohne sie undenkbar.

  1. Es wäre wichtig, wenn das bisher geschichtlich vernachlässigte Gebiet der Deutschen Sittengeschichte von dieser Seite (Abwandlung der sittlichen Begriffe in der Sprache) einmal eingehend bearbeitet würde. Erzählung einiger Curiosa ist nicht Sittengeschichte. Dem Beweis des im Texte Geäusserten möge hier die folgende Zusammenstellung genügen. Amicus regis ist königlicher Rath: Koepke, Widukind S. 138. Für amicitia vgl. Richer 2, c. 29.3, 81; Flod. z. J. 923; 931; 935; 938; 946; Alp. de div. temp. 1, c. 2. 2, 1. 2, 7; aus späterer Zeit s. noch Cod. Udalr. Nr. 88 (1096). Zu benedictio s. Cod. Carol. Nr. 17, Jaffé, S. 83 (758–759); zu benignitas (= Gastgeschenk) Ep. Carol. Nr. 11 (796), Jaffé, S. 357. Sehr bezeichnend ist caritas, vgl. V. Uodalr. c. 4, SS. 4, 393; Mir. Uodalr. c. 12, SS. 4, 421; Mir. s. Marci c. 2, SS. 4, 450; Thietm. 7, c. 20; Tr. S. Liborii c. 18; vgl. auch Ennen Qn. 1, Nr. 32, und Cardauns, Rhein, Urkk. 12, S.358 (1095–99). Zu familiaritas s. Alp. de div. temp. 1, c. 2; zu fidelitas (Gefolge von Getreuen) Ep. Carol. 5 (788), Jaffé, S. 346; zu fides Richer 4, c. 26. Sehr gewöhnlich ist honor als Lehen, z. B. Thietm. 7, c. 21, vgl. Roth, Benef. 432, für das 10. Jh. Koepke, Widuk. 97. Von kirchlichen Begriffen möchte ich hervorheben pietas (Liebesbeweis) Thietm. 5, c. 9; religio (geistlicher Stand, vgl. z. B. Ann. Bland, z. J. 1117; religiones Christi Ennen Qn.2, Nr. 59, 1218); virtus Wunder, z. B. Vita Joh. Gorz. Praef., SS. 4, 338. Sehr charakteristisch sind sanctitas als Reliquienschrein (Mir. s. Verenae c. 8), confessio in dem Gesta Witig. Vers 451 gebrauchten, auch in Rom von der Confessio s. Petri herkömmlichen Sinne, misericordia als Klappsitz-Console. Zum sonstigen objectiven Gebrauch von misericordia s. die oben citirte Stelle Cardauns, Rh. Urkk. 12, S. 358 (1095–99).
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_013.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)