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Eben von diesem Gesichtspunkte juristischer Construction und formaler Typik der sittlichen Handlungen her erklärt sich die Erscheinung, dass sittliche Empfindungen zur Grundlage rein verfassungsmässiger Constructionen gewählt werden konnten. So beruht das Verhältniss Karls des Grossen zu den Päpsten auf der politischen Fassung des Begriffs der Liebe, der Zusammenhang der spätkarlingischen Reiche auf der verfassungsmässigen Ausprägung von Begriffen wie Eintracht, Erbarmen, Verzeihung[1], das ganze Lehenswesen endlich auf der juristischen Bindung des Treubegriffs.

Ist damit die Brücke zur rein juristischen Festlegung sittlicher Begriffe noch nicht abgeschlagen, so bleibt doch bestehen, dass die Sitte immerhin nicht mehr mit dem Recht völlig zusammenfloss, dass sie schon bestand als besonderes Regelungsmittel der socialen Beziehungen, wenn sie auch zur Einzelperson als solcher, im Sinne eines Mittels individueller sittlicher Vertiefung, noch fast kein Verhältniss gewonnen hatte.

Der formalen Ausprägung aber bedurfte sie, um die noch jugendlich starken Regungen der Welt des frühen Mittelalters wenigstens einigermassen zu beherrschen. Denn ganz anders noch als heutzutage, malte sich die Welt gegenseitiger menschlicher Beziehungen in den Köpfen der Ottonischen Gesellschaft. Man vergegenwärtige sich nur, dass die rechtliche Handlungsfähigkeit bis ins 9. und 10. Jh. hinein bei fast allen Deutschen Stämmen mit dem zwölften Jahre eintrat, dass Frauen gelegentlich schon mit dem zwölften Jahre heiratheten[2], dass erst die spätere Ottonenzeit ein Bedürfniss fühlte, den Termin bürgerlicher Selbständigkeit weiter hinauszuschieben. Wie mussten die nach unseren Begriffen Erwachsenen empfinden, gewährleisteten sie Kindern die volle Freiheit sittlicher Bewegung!

In der That ist das sittliche Leben dieses Zeitalters noch voll jugendlich-unreifen Hastens, voll sprunghaften Thuns, voll impulsiven, ja fast nur reflexmässigen Denkens. Politische Gesinnungswechsel sind überaus häufig; bisweilen sind sie fast unerklärbar, nicht selten abhängig von angeblich höherer Eingebung,

  1. Trefflich nachgewiesen von Bourgeois, Cap. de Kiersy, vgl. namentlich die allgemeineren Ausführungen S. 207 ff. Noch ein Grundgesetz von Bremen v. J. 1534 heisst die neue Eintracht: Grimm, DWB. u. d. W. Eintracht.
  2. Thietm. 4, c. 26; vgl. Vita Adelh. c. 2.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_014.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)