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von Träumen und Wundern. Es fehlt eine gewisse Gleichmässigkeit der moralischen Stimmung; angeblich sittlicher Zwecke halber übersehen auch die sittlichsten Naturen der Zeit leicht die Unsittlichkeit der angewendeten Mittel; Reliquiendiebstähle zur Ehre Gottes[1], Urkundenfälschungen zum Vortheil irgend eines Heiligen, alle Arten der pia fraus sind alltäglich. Dem entspricht es, wenn Tadel leicht zum Fluch, wenn Strafe zur brutalen Peinigung führt, wenn ungezügelte Sinnlichkeit im Weibe nur noch thierische Instincte wahrnimmt und ausbeutet oder verabscheut[2].

Aber freilich zeitigt die Unausgeglichenheit der moralischen Haltung auch die grossen Eigenschaften der Periode. Die Gesellschaft dieser Zeit vertuscht nichts[3], sie redet noch in ungebrochenen Naturlauten, die gröbsten Laster wurden öffentlich besprochen ohne Scheu; die zarte Hrotsuit[WS 1] schildert in ihren Dramen Bordellscenen mit liebevollstem Eingehen auf Einzelheiten[4]. Aber die Gesellschaft ist andererseits keineswegs lüstern, ihre Offenheit hat etwas Wahres, sie wirkt bedeutend durch den grossen Wurf ihrer Naivität. Es sind Züge, die dem öffentlichen Leben, der Geschichte dieser Zeit noch heroische Färbung verleihen; die Leidenschaften öffnen kühn ihr Visier in den Kämpfen um Herrschaft und Reich; und der Sturmwind unserer Epen jagt noch über die Felder auch der höchsten politischen Conception.

Goethe hat einmal als die eigentliche Wurzel höherer Sittlichkeit die Selbsterkenntniss, als ihr echtes Mittel die Selbstbeherrschung bezeichnet. In der That ist praktische Willensfreiheit in unserem Sinne wohl zumeist identisch mit der Bestimmung unseres Willens durch den Verstand, d. h. durch geläuterte sittliche und gesellschaftliche Vorstellungen. Insofern ist die Sittlichkeit nicht zum Geringsten mit bedingt durch die Voraussetzungen

  1. Pium furtum, Transl. Udalr. c. 5, SS. 4, 428.
  2. Varium enim est et mutabile animal foemina, Gesta ep. Leod. 2, c. 59 (vgl. Vergil Aen. 4, 569). Den defectus solitus mentis muliebris erkennt sogar eine Frau an, Hrotsuit Prim. Ganderh. 544, vgl. Gesta Odd. 243 ff.
  3. Vgl. Thietm. 2, c. 24, SS. 3, 756. Ausgebildet ist die Gabe der Verstellung meist nur zu rohen, meist arglistig politischen Zwecken. Hier sprach man geradezu von tecnae (τέχναι): Richer 4, c. 43. Im übrigen war der Ton der Unterhaltung auch in den höchsten Kreisen naiv: Richer, 2, c. 51.
  4. Man vgl. zur Ausdrucksweise auch den einem Frauenkloster entstammenden Satz Ann. Quedlinb. z. J. 997 von P. Johann: s. b. Petri apostoli sedem… fornicando potius cacca(vit), quam venerando ins(edit).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Hrotsvit (* um 935; † nach 973) war Kanonissin des Stiftes Gandersheim. Gilt als erste deutsche Dichterin
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_015.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)