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eines entwickelteren Verstandes, durch eine höhere Erkenntniss, also durch Vorgänge und Errungenschaften der intellectuellen Entwicklung. Je freier die Weltkenntniss, um so höher die Selbsterkenntniss, um so individueller die Sittlichkeit.

Nun war der Stand der intellectuellen Durchbildung der Gesammtnation auch im Zeitalter der Ottonen noch niedrig genug. Sieht man von dem geringen positiven Wissen und Können der Menge ab, das z. B. die Multiplication nur erst in der Form wiederholter Addition bewältigte, so hatte das Denken an sich noch etwas durchaus Gegenständliches, es haftete am Einzelnen. Der Gedankeninhalt war noch nicht so gross, dass er einer Reduction durch Verallgemeinerung der concreten Einzelheiten zu wissenschaftlichen oder schliesslich philosophischen Begriffen bedurft hätte. Es bestand auf dem Gebiete der Erfahrung noch keine Enge des Bewusstseins.

Die Folge war, dass sich das Denken gern in concreten, halb dichterischen Formen äusserte. Das geschah sogar in der Umgangssprache unter Anlehnung an die alten symbolischen Formeln der urzeitlichen Poesie, die das ganze Mittelalter hindurch nicht völlig verloren gingen[1]. So wird z. B. der Gedanke, dass auch Jünglinge oft sterben, in der Bemerkung wiedergegeben, oft werde schon eine Kalbshaut an die Wand gehängt[2]. Ja noch mehr, auch die Sprache selbst hatte noch etwas Bilderreiches, sie strotzte gleichsam in den schillernden Farben des Oelbildes, während das moderne Deutsch seinen schweren Gedankeninhalt in sparsam knapper Federzeichnung birgt: der Gedanke hatte die Pracht der Einzelvorstellung noch nicht beseitigt.

Es war freilich nur eine andere Seite dieses Charakters der Sprache, dass sie fast noch keinerlei persönliche, individuelle Handhabung gestattete. Ihre Laut- und Flexionsverhältnisse sind rein und unbemessen, die syntaktischen Gesetze gelten ausnahmslos und lassen nicht mit sich pactiren: der sprachliche Fortschritt vollzieht sich noch nicht durch literarische Einwirkung, sondern im Dunkel unmittelbar sprachlichen Bewusstseins der Menge.

  1. H. Heine (Ges. Werke 6, 27 ff.) findet sogar den Charakter aller mittelalterlichen Poesie im Hinzukommen der esoterischen Bedeutung (Symbolik) zur äusseren Darstellung.
  2. Thietm. 2, c. 21. Man vgl. Richer 2, c. 11; Bruno Bell. Sax. c. 125. Eben hierher gehört die bekannte Frage an Ekkehard von Thüringen: Num currui tuo quartam deesse non sentis rotam? Thietm. 4, c. 32.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_016.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)