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Dementsprechend schreibt Niemand einen individuellen Stil; auch in der Lateinischen Literatur der Zeit ist der Begriff des Stiles fast noch unbekannt, so dass es nur ausnahmsweise gelingt, die literarische Ueberlieferung nach stilistischen Merkmalen mit Bestimmtheit zu sichten. Ja selbst die Satiren und Streitschriften des 11. Jhs., Werke verhältnissmässig besonders persönlicher Art, haben viel Typisches; in jedem Tractate gleichviel welchen Verfassers wiederholt sich dieselbe Diction, fast die gleiche Reihe von Ausdrücken, Gedanken und Bildern[1].

Wie in der Sprache, so hatte man sich auch im Leben und noch weniger in der Vergangenheit irgendwie herrschend heimisch gemacht. Dieselbe Unfähigkeit, das thatsächlich Gegebene geistig scharf zu fassen und wiederzugeben, begegnet auch hier. Man sah gleichsam nur ornamental, liess sich von den äusseren, nur in den allgemeinsten Zügen erkannten Umrissen der Dinge einnehmen und treiben. So fehlte jeder Sinn für Massenerscheinungen, der immer ein Beherrschen von Einzelheiten voraussetzt; die unglaublichsten Dinge fabelte man über die Grösse von Heeren, die Menge gefallener Krieger, die Ausdehnung von Seuchen, die verheerende Kraft grösserer Brände. Für die gewöhnlichsten Vorstellungen auf diesem Gebiete, namentlich Zahlenvorstellungen, entwickelten sich geradezu typische Lösungen, die immer und immer wieder als für Einzelfälle zutreffend gebraucht werden. Namentlich spielen hier einfache Theile und Multipla des grossen Hunderts eine Rolle; zumeist ist in den Quellen des 9. und 10. Jahrhs. von Kriegsauszügen zu 30, 40, 60, 120 Tausend die Rede[2].

Hilfsmittel, welche für die Richtigstellung solcher typischer Anschauungen zeitgenössischer Verhältnisse noch hätten benützt werden können, fehlten vielfach für die Vergangenheit. Um so mehr verfiel man auf diesem Gebiete reinem Autoritätsglauben. Wie man im Rechtsgang noch die formellen Beweismittel der Gottesurtheile zuliess[3], so galt dem geschichtlichen Sinne jede Ueberlieferung als unverrückbar heilig[4]; und da die ungesichtete Tradition eine Fülle von Unwahrscheinlichkeiten enthielt, so

  1. Vgl. Helmsdörfer, Wilhelm von Hirschau S. 27.
  2. Zur Frage im Allgemeinen vgl. R. Hirzel in den Verh. der Sächs. Ges. der Wissensch., Phil.-hist. Cl. 37 (1885), 1–74.
  3. Vgl. Widuk. 2, c. 10; auch 3, c. 32; 65.
  4. Noch das 11. Jh. beweist mit Citaten. Bernheim, Lehrb. S. 409.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_017.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)