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„Baum“ überhaupt bedeuten[1], wie in der Urzeit die Sprache jeder besonderen Bezeichnung für einzelne Blumen darbt[2] und nur das generelle Wort Blume kennt, so stellt auch die Pflanzenornamentik der ausgehenden Stammeszeit keine besonderen Blumen dar, sondern begnügt sich mit der Wiedergabe der typischen Einzelheiten jeder Pflanze, des Keims und des Blattes, der Blüthe und des Schaftes.

Der Fortschritt gegenüber der Thierornamentik vollzieht sich also noch auf der gemeinsamen Grundlage der typischen Wiedergabe der Aussenwelt: diese ist dem ganzen Zeitalter der Stammescultur gemeinsam. Neu ist nur die Anwendung auf die nicht actuelle, scheinbar nicht belebte Seite der Aussenwelt, auf das Pflanzliche. Hatte die aesthetische Anschauung im 6. bis 8. Jh. nur das lebendig Bewegte ergriffen, in den folgenden Jahrhunderten ging sie zu sinnigerer Betrachtung auch des Ruhenden über.

Die Wandlung ward wohl theilweise mit durch die Reception des Christenthums und die Karlingische Renaissance vermittelt. Jetzt ward den Deutschen das Geheimniss der Schrift erschlossen; ein neues Feld wichtigen Kunstbetriebes ergab sich in der würdigen Ausstattung der Bücher des christlichen Cultus. Zwar zogen auch hier anfangs die ungeschlachten Gestalten der Thierornamentik ein; die Anfangsbuchstaben, recht eigentlich der Standort jeder ornamentalen Buchausstattung, wurden zu verrenkten Thierleibern gestaltet. Aber das Ungeschickte der Anwendung musste doch bald auffallen. Schrift und Inhalt der heiligen Bücher mahnten zur Ruhe; so leicht sich Germanische Einbildungskraft sogar die Buchstaben belebt vorstellte[3], so sehen wir doch schon gegen Ende des 7. Jhs., wie sich den Initialen hier und da Knospen und Blätter ansetzen[4]: so vermittelte die Buchornamentik zuerst den Uebergang zur neuen Kunst des 9. bis 11. Jhs.

Auch in ihrer herrlichsten Blüthezeit, in der zweiten Hälfte des 10. Jhs., wie später, blieb die Pflanzenornamentik im Wesentlichen an die Buchausstattung gefesselt, wenngleich sie auch zur

  1. Wir verstehen noch heute unter Tann jeden Forst; ahd. tanesil ist der Waldesel.
  2. Vgl. Schrader, Sprachvergl. u. Urgesch. S. 173 f.
  3. Vom P heisst es in einer Ags. Quelle: Der Kampfheld hat eine lange Ruthe mit goldener Spitze, und stets schwingt er sie gegen den grimmen Feind: Ebert, Lit.-gesch. 3, 93.
  4. Vgl. Bastard Taf. 13. Fürs 8. Jh. vgl. Bastard Taf. 43; 46; 47.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_020.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)