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Meeres, die Königin der Engel[1]. Von Sedulius und Fortunat besungen, von Radbertus und Ratramnus bis nahe zur Vorstellung der unbefleckten Empfängniss ihrer Mutter Anna dogmatisch verehrt, fand sie im h. Ulrich von Augsburg, dem Patriarchen der Ottonischen Bischöfe, einen glühenden Verehrer; überallhin drang ihr Cult; schon die Miniaturhandschriften der zweiten Hälfte des 10. Jhs. kennen den Bildercyklus des Marienlebens[2].

Indem aber die Heiligen mit ihrem Glanze die höheren Personen der Bibel für die Blicke der Laien fast zu verdrängen beginnen, wuchert üppig der Reliquiendienst empor mit all seinen Wundern[3]: die neutestamentlichen Zeiten scheinen wieder herbeigekommen: alle Welt ist übernatürlicher Kräfte voll[4]; es giebt nichts Unwahrscheinliches mehr[5]; und der altgermanische Fatalismus setzt sich um in die blinde Zuversicht in[WS 1] die allgegenwärtige Hilfe des Herrn und seiner Heiligen.

Und wie der altgermanische Fatalismus den sengenden Kriegeseifer unserer urzeitlichen Ahnen erzeugt hatte und nährte, so gab der neue, christliche Fatalismus den Deutschen des 10. Jhs. das Gepräge furchtbarer Gottesstreiter. In stetem Kampfe lagen sie mit dem Unhold der Hölle; besiegen aber liess er sich in seiner Wirkung böser Lüste nur durch eine immer grimmiger betriebene Askese[6].

Anfangs hatte man sich im Kampfe gegen den Vater der Lüge wohl mit der genauen Befolgung der kirchlichen Sittenvorschriften begnügt, wie sie Bischof und Priester in ihren äusseren Formen aufs Strengste einschärften, ohne Verständniss für das Wort Christi, dass er gekommen sei das Gesetz zu erfüllen. Aber bald ging man darüber hinaus. In der Fastenzeit waren

  1. Imperatrix angelorum sogar: Brun. Vita Adalb. c. 2.
  2. Vgl. Janitschek, Gesch. der Deutschen Malerei. S. 84.
  3. Vgl. als charakteristisch das 11. Capitel de Vita Deod. I. Mett.: De aviditate (Deoderici) in perquirendis reliquiis.
  4. Die Heiligen haben schon Specialitäten im Wunderwirken, vgl Mir. S. Verenae c. 6. Auch bei Nichtheiligen nimmt man in der Lebensführung gerne Wunder an: Hrotsuit, Gesta Odd. Vers 542. Vgl. Vita Bernw. Prol., auch aus früherer Zeit Agius, Vita Hathum. Vers 455 ff.
  5. Man vgl. Vita S. Gerard. Tull. c. 10.
  6. Es mag ausdrücklich betont sein, dass diese Askese somit durchaus nicht eine „neue Erscheinungsform“ der alten orientalischen Askese ist. Das war schon die spätrömische Askese nicht, da sie aus durchaus anderen Motiven hervorging, wie die orientalische.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Zuversichten
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_032.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)