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aufgefasst, dass erst in dem neu entdeckten kleinen Buche[1] der Schlüssel zum richtigen Verständnisse des grossen gefunden worden wäre. Um einem Irrthume in der einen oder anderen Richtung zu entgehen, soll im Folgenden zunächst der historische Gehalt der Schrift vom Staate der Athener ohne Rücksicht auf den Namen des Verfassers geprüft werden. Es soll sich daran eine Untersuchung der Frage schliessen, ob es nothwendig ist, den Verfasser, wie er sich nach dieser Prüfung darstellt, mit Aristoteles zu identificiren und ob die Vorstellung, die wir von ihm gewinnen, vereinbar ist mit dem, was sich aus der Politik über den Historiker Aristoteles ergibt.


I.

Ausführlich wird uns auf dem Londoner Papyrus eine Verfassung geschildert, die Drakon den Athenern gegeben haben soll. Nun galt es bisher als ausgemacht, dass Drakon die Athenische Staatsverfassung nicht verändert habe. Denn in der Aristotelischen Politik stand zu lesen, Drakon habe seine Gesetze auf Grund der bestehenden Verfassung gegeben. Allerdings wurde von manchen – keineswegs von allen[2] – Philologen bezweifelt, ob das Capitel der Politik, dem wir diese Nachricht verdanken, von Aristoteles selbst verfasst oder in seinen Text eingeschoben sei. Aber Niemand bestritt, dass in diesem Capitel gute Ueberlieferung erhalten ist. Die Nachricht, Drakon habe den Athenern eine neue Verfassung gegeben, steht also zu einer guten Ueberlieferung in Widerspruch[3]; und dass sie selbst aus einer schlechten Quelle stammt, ist nicht schwer zu erkennen.

Als charakteristisch für die angebliche Verfassung Drakon’s erscheint bei unserem Autor, dass die politischen Rechte nach dem Vermögen

  1. Allen, die sich für dieses Buch interessiren, wird die Uebersetzung von Kaibel und Kiessling (bereits in zweiter Auflage erschienen: Strassburg 1891) willkommen sein. Eine annähernd vollständige Uebersicht über den Inhalt, insbesondere, soweit er Neues bietet, gibt Adolf Bauer im Julihefte der Preuss. Jahrbb.
  2. Z. B. erklärt Wilamowitz (Aus Kydathen S. 96), dass er das zwölfte Capitel des zweiten Buches, in dem sich die fragliche Stelle findet, für echt hält.
  3. Dass die Ansicht, Drakon habe die Verfassung nicht verändert, auf Ueberlieferung beruht und nicht auf Hypothese, übersieht Diels (Deutsche Literaturzeitung 1891, Nr. 24).
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_003.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2023)