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darf und was nicht. Man wird nicht erwarten, dass Aristoteles in der historischen Kritik mehr geleistet habe als Thukydides. Er hält Vieles für wirklich, was die neuere Forschung als sagenhaft erkannt hat. Zum Beispiele trägt er kein Bedenken, Lykurg, dessen Existenz heute bestritten wird, als Urheber der Spartanischen Verfassung anzusehen. Aber darum glaubt er nicht alles, was von Lykurg erzählt wird. Sein kritischer Sinn zeigt sich darin, dass er überhaupt dem Zweifel an dem, was überliefert ist, Raum gibt. Und die Vorsicht, die seinen rationalistischen Vorgängern fehlte, beweist er, indem er es nicht wagt, Richtiges und Falsches scharf zu sondern oder gar eigene Hypothesen an Stelle der Ueberlieferung zu setzen, sondern sich begnügt, Sicheres und Unsicheres zu unterscheiden.

Während er so gegenüber den Ereignissen der Vergangenheit bei einem unentschlossenen Zweifel an der Tradition stehen bleiben musste, hatte er, ähnlich wie Thukydides, einen sicheren Weg gefunden, um vergangene Zustände zu reconstruiren. Er studirte, soweit es ihm möglich war, die geltenden und veralteten Gesetze in ihren authentischen Texten und hob aus ihnen das Charakteristische hervor. Andererseits wusste er, dass auch die Dichter, so frei sie das erfinden, was sie mit Absicht erzählen, doch als zuverlässige Zeugen dienen können mit dem, was sie ohne Absicht und zwischen den Zeilen über die Verhältnisse ihrer Zeit verrathen. Er verwendet mehrfach Dichterverse, um Rechtsinstitute der Vergangenheit anschaulich zu machen.

So hervorragend Aristoteles sich an kritischem Scharfsinne zeigte, so war dieser es doch nicht und nicht einmal in erster Linie, was ihm Anspruch auf den Namen eines grossen Historikers gab. In das Leben und Denken seiner Zeitgenossen und Vorfahren von Grund aus einzudringen, war ihm nur darum möglich, weil er an allem Menschlichen den warmen und zugleich unparteiischen Antheil nahm, den wir als historische Objectivität zu bezeichnen pflegen. Diese Objectivität zeigt er vor allem darin, dass er trotz seiner entschiedenen Vorliebe für eine bestimmte Verfassung doch verschiedene Verfassungen als gut anerkennt, nämlich alle, in denen das Wohl des Ganzen und nicht das Interesse einer einzelnen Classe massgebend ist[1]. Insbesondere verschliesst sich Aristoteles nicht der Einsicht, dass die

  1. III, 1280 a 8.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_016.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2023)