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nicht erschöpft[1]; das Gesetz ist ihm nur der äussere Rahmen, innerhalb dessen sich das Leben des Staates entfaltet. Allerdings hat er diese von ihm selbst gezogene Grenze nicht immer consequent eingehalten und sich dem Einflusse der herrschenden Ansicht, das Leben lasse sich bis ins Einzelne durch Vorschriften regeln, nicht völlig entzogen. Mehrfach stellt er weitgehende Anforderungen an den Gesetzgeber[2] und verlangt insbesondere, die Gesetze sollten den Einzelnen moralisch bessern[3], während er an einer anderen Stelle[4] anscheinend mit Beifall die Ansicht des Sophisten Lykophron erwähnt, nach welcher das Gesetz den Bürgern nur eine Garantie bietet, dass kein Unrecht geschieht, aber nicht im Stande ist, die Menschen gut und gerecht zu machen.

Aristoteles und Lykophron, so scharf sie sich zu widersprechen scheinen, stimmen doch darin überein, dass sie eine Art der Gesetzgebung verwerfen, welche meint, etwas durchsetzen zu können, sobald sie es befiehlt, ganz unabhängig davon, wie die Menschen sind, denen sie befiehlt. Zum Beispiele hält Aristoteles es für unmöglich, die Ungleichheiten in der Vertheilung der Güter durch gesetzlichen Zwang zu beseitigen, so lange die Triebe nicht ausgeglichen sind, welche diese Ungleichheit stets von Neuem erzeugen. Im Vordergrunde steht ihm die Frage, ob die Staatsbürger, insbesondere derjenige Theil, der die politische Gewalt in Händen hat, tüchtig und für das Wohl des Ganzen eifrig sind. Indem er auf die Gesinnung und Fähigkeit des Einzelnen das entscheidende Gewicht legt, tritt er in scharfen Gegensatz zu den Theoretikern, welche die Menschen, ohne auf ihre Leidenschaften und Triebe zu achten, wie Marionetten im Dienste der Staatsmaschine lenken wollen. Desshalb richtet er in allen Staaten sein Augenmerk auf das Problem, welchen Einfluss die menschliche Natur innerhalb der gesetzlichen Grenzen oder auch im Kampfe gegen diese Schranken auf das Gedeihen des Gemeinwesens ausübt. Am deutlichsten tritt dieser Einfluss da hervor, wo ein Einzelner für das Wohl und Wehe des Ganzen massgebend ist, in der Monarchie. Die psychologischen Studien, welche Aristoteles an Monarchen gemacht hat, sind daher in besonderem Masse überzeugend und anschaulich.

  1. III, 1280 b.
  2. II, 1273 b 22.
  3. III, 1333 a 13.
  4. III, 1280 b 10 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_018.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)