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An anderen Stellen spricht er sich sehr günstig über die Urtheilsfähigkeit der Menge aus. Nachdem festgestellt ist, dass unter allen Umständen jeder menschliche Wille den Gesetzen unterworfen sein muss, wirft Aristoteles die Frage auf, ob innerhalb der gesetzlichen Schranken besser ein Einzelner oder eine Mehrheit die Entscheidung in Händen hat. Er spricht sich für die Herrschaft der Mehrheit aus, weil Wenige sich leichter als Viele irre leiten liessen[1]. Die Rechenschaft, welche die Beamten vor der Menge abzulegen haben, rechtfertigt er gegen den Einwand, dass Laien nicht im Stande seien, über Sachverständige zu urtheilen, und geht dabei von dem Gedanken aus, dass der Verstand von vielen mittelmässigen Köpfen, wenn er sich summirt, dem Verstände eines einzigen klugen Mannes überlegen sein könne[2].

Diese Aeusserungen würden in einem directen Widerspruche mit einander stehen, wenn damit, dass Aristoteles sich für die Herrschaft der Mehrheit ausspricht, jede Verfassung gerechtfertigt würde, die sich auf das Princip der Mehrheit beruft. Ihn würde dann derselbe Vorwurf treffen, der S. 9 gegen den Verfasser der Schrift vom Staate der Athener erhoben wurde. Was Aristoteles über die Unbestechlichkeit der Majorität sagt, verwerthet dieser, um seine Zustimmung zu derjenigen Entwicklung der Athenischen Verfassung zu begründen, nach welcher die früher zur Competenz des Rathes gehörigen Processe an die Volksgerichte übergegangen waren. Es hat sich schon gezeigt, dass dies Lob der Volksgerichte mit anderen Aeusserungen desselben Verfassers unvereinbar ist. Denn wie Aristoteles sieht er in den Volksgerichten die Hauptgrundlage der Demokratie[3], und dass er diese Institution missbilligt, beweist er, da er Perikles aus der Einführung des Richtersoldes einen Vorwurf macht.

Wenn Aristoteles derselbe Widerspruch zur Last fiele, wenn er jemals ein Princip aufgestellt hätte, durch welches die von ihm verabscheute Massenherrschaft gerechtfertigt würde, dann müsste man ihm nicht nur den Namen eines grossen Historikers, sondern auch den eines klaren Denkers absprechen. Aber er hat ein solches Princip nicht aufgestellt. Er billigt die Herrschaft der Mehrheit nur innerhalb der gesetzlichen Schranken;

  1. III, 1286 a 26 ff.
  2. III, 1281 b 20.
  3. Cap. 9.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_024.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2023)