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Ob Aristoteles Recht hatte, wenn er die Handwerker und Tagelöhner allein verantwortlich machte für die Missgriffe, die der Athenischen Bürgerschaft begegneten, und wenn er von einer auserlesenen Bürgerschaft hoffte, sie werde ihre Hoheitsrechte mit mehr Mässigung ausüben, kann man bezweifeln, ohne seiner Grösse zu nahe zu treten. Allerdings hat die städtische Masse manchen übereilten und ungerechten Beschluss gefasst. Aber dieselbe Masse hat, wie Aristoteles selbst hervorhebt, den Sieg bei Salamis erfochten. Und wenn ländliche Majoritäten weniger durch Uebereilung fehlen, so fehlen sie mehr durch Beschränktheit. Aristoteles war weder als Theoretiker noch als Historiker unfehlbar. Als Theoretiker entzog er sich nicht der populären Vorstellung, dass Collectivverstand dem Einzelverstande überlegen sei. Als Historiker erkannte er richtig, dass die Athenischen Majoritäten nicht den Erwartungen entsprachen, die er von seiner idealen Majorität hegte. Aber er legte den Handwerkern und Tagelöhnern allein zur Last, was, wenigstens zum Theil, im Wesen einer jeden Majorität begründet ist. Schon Solon hat den Athenern vorgeworfen, sie gingen als Einzelne den Weg eines Fuchses, stellten aber als Masse einen Strohkopf dar, und Herodot ist zu der Einsicht gelangt, dass eine Menge leichter zu betrügen ist, als ein Einzelner. Aristoteles hat diese Aeusserungen, welche die Urtheilsfähigkeit jeder, auch der auserlesensten Majorität in Frage stellten, sich nicht angeeignet. Die einzige ihm genau bekannte Massenherrschaft, die Athenische, wurde von Handwerkern und Tagelöhnern ausgeübt. So suchte er in der Untüchtigkeit dieser Stände den alleinigen Grund des Uebels. Seine principielle Werthschätzung der Majorität und seine Geringschätzung der Handarbeit vereinigten sich, um ihn eine richtig beobachtete Thatsache falsch oder wenigstens einseitig erklären zu lassen.

Aristoteles bleibt ein grösser Philosoph, auch wenn er die Würde der Arbeit nicht zu schätzen wusste. Er bleibt ein grosser Historiker, auch wenn er gegenüber den Mängeln, welche in Athen die Herrschaft der niederen Stadtbevölkerung mit sich

    dessen haben sie durch den Hinweis auf jene Stelle der Politik, in welcher Aristoteles das Urtheil der Menge als unbestechlich lobt, das Material herbeigeschafft, mit dessen Hilfe die misslungene Erklärung durch die richtige ersetzt werden konnte.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_027.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2023)